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Hebamme von Sylt

Hebamme von Sylt

Titel: Hebamme von Sylt
Autoren: G Pauly
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sich nicht geirrt. Ioan Bitu ist schon einmal in Verdacht geraten. Wenn er sich auch in der letzten Nacht in guter Gesellschaft betrunken hat, wird man Hanna in der Luft zerreißen.«
    Aber Hanna hatte sich nicht geirrt, das bestätigte Heye Buuß ausdrücklich. Als Ioan Bitu begreifen musste, dass er bei dem Mord an Leonard Nissen beobachtet worden war, hatte er es mit dem Leugnen gar nicht erst versucht und sich zu einem Geständnis entschlossen. Nicht einmal Reue hatte er gezeigt und laut geschrien, für diese Tat ginge er gerne ins Gefängnis. Hauptsache, der Tod seiner Frau sei gerächt.
    »Er ist Dr. Nissen so lange nachgeschlichen«, berichtete der Inselvogt den Gästen des Conversationshauses, »bis er endlich glaubte, eine gute Gelegenheit für seine Rache gefunden zu haben.«
    Irgendjemand rief dazwischen: »Warum Rache? Was hat Dr. Nissen ihm angetan?«
    Auch das konnte der Inselvogt erklären: »Bitus Frau wurde während der Geburt ihres ersten Kindes von einem Arzt falsch behandelt, so dass sie starb, kaum dass das totgeborene Kind auf der Welt war.«
    »Etwa von Dr. Nissen?«, rief eine Frau und klimperte mit ihren Schmuckstücken.
    Heye Buuß nickte. »Es hat sich dann herausgestellt, dass in der bekannten Klinik von Professor Johannsen ein Arzt tätig war, der nie sein Staatsexamen abgelegt hatte. Nach einigen Semestern hatte er wohl erkannt, dass er den Anforderungen des Medizinstudiums nicht gewachsen war.«
    Empörtes Gemurmel erhob sich, das Hanna mit einem Lächeln quittierte, als hätte man ihr applaudiert.
    »Aber er wollte die Tochter des Klinik-Chefs heiraten«, fuhr der Inselvogt fort. »Und für die kam nur ein Ehemann in Frage, der einmal die Nachfolge ihres Vaters antreten konnte. Also hat er Zeugnisse gefälscht, die ihn als examinierten Arzt auswiesen. Auf die gleiche Weise hat er auch seine Doktorwürde erworben.«
    Der Fehler bei der Niederkunft von Ioan Bitus Frau war so eklatant gewesen, dass der Schwiegervater, den vermutlichschon seit einer Weile Zweifel plagten, nun genau wissen wollte, wen er sich da ins Haus geholt hatte. »Und dabei stellte sich heraus«, endete der Inselvogt, »dass Leonard Nissen ein Schwindler und Betrüger war.« Er bedachte die Anwesenden mit einem vielsagenden Blick, der eigentlich dem Kurdirektor gelten sollte. »Wie gut, dass dieser Mann keine Gelegenheit hatte, sich auf Sylt niederzulassen. Wir hätten uns von einem Kurpfuscher behandeln lassen!«
    Die schönste Zeit in Hanna Boykens Leben hatte damit ihren Zenit überschritten. Sie war immer noch schön, dennoch war die die Zeit in dem tiefen, weichen Sessel des Conversationshauses bald vorbei, sie wurde mit vielen freundlichen, aber auch eindeutigen Worten vor die Tür komplimentiert. Doch ihr fiel es gar nicht auf, dass die schönste Zeit ihres Lebens sich dem Ende zuneigte, denn Elisa von Zederlitz war mit ihr gekommen, hatte sich an ihre Seite gestellt und aller Welt gezeigt, dass sie den weichen Sessel nicht wollte, wenn dafür Hanna Boyken daraus vertrieben wurde. Diese Loyalität war für Hanna das Allerschönste an diesem Tag. Und als ihre Mutter, die es nicht gewagt hatte, Hanna ins Conversationshaus zu folgen, auf sie zukam und sie umarmte, wie es eine Mutter tat, die stolz auf ihr Kind war, fühlte Hanna sich so glücklich, dass sie glaubte, dieser Tag könnte ihr ganzes Leben verändern.
    Sie hatte nicht ganz unrecht. Aber natürlich konnte sie nicht ahnen, dass der schönste Tag ihres Lebens auch ihr letzter sein sollte.
     
    Als sich ihrer Tochter eine tödliche Gefahr näherte, stand Gräfin Katerina am Fenster und begann den Brief zu lesen, den ihr Mann ihr hinterlassen hatte. Sie würde ihm sagen müssen, dass er sich irrte. Gleich, wenn er zurückkam, würde sie es ihm sagen. Aber nur dieses eine: Sie hatte Dr. Nissens Tod nicht in Auftrag gegeben. Mehr würde sie zu diesem Thema nicht sagen. Dazu, dass sie der Meinung gewesen war, er selbst habeden Arzt auf dem Gewissen, würde sie nichts sagen. Das waren zu viel der Worte. Gräfin Katerina war keine Frau, die sich dem Schicksal stellte, indem sie es von allen Seiten betrachtete, sich beriet, es erörterte oder disputierte. Sie war eine Frau, die ihr Leben bewahrte, indem sie schwieg. Sie war eine Frau, die lieben und hassen konnte, indem sie etwas an sich heranließ oder zurückwies. Und was sie zurückwies, war nichts, worüber sie zu reden bereit war.
    Sie blieb dabei, dass sie nicht über die Nacht vor sechzehn Jahren sprechen
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