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Heavy Cross

Heavy Cross

Titel: Heavy Cross
Autoren: Ditto Beth
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Cupcake. So ewig gestrig wuchsen die Mädchen in meiner Familie auf: Die Töchter mussten sehr früh Verantwortung übernehmen und wurden viel zu jung kleine Erwachsene. Tante Jannie stellte keine Fragen. Ohne mit der Wimper zu zucken goss sie Milch in einen Behälter und schickte Akasha los, die sich daraufhin beeilte, nach Hause zu kommen, bevor die Sonne von Arkansas die Milch sauer werden ließ.

FÜNF
    5
    ICH WAR UNGEFÄHR ZWÖLF, und meine Mutter hatte zu dieser Zeit einen Freund, Gary, der Tontechniker, der im sagenumwobenen Little Rock wohnte – einem Ort, in dem die Leute Toiletten im Haus und Telefonanschlüsse hatten. Dort durfte man tanzen, anders als in Judsonia, wo dies vor einer Million Jahre verboten worden war: ein Gesetz, das seitdem niemand wieder abgeschafft hatte. Wir tanzten in unseren Zimmern oder unter der Dusche. Manche stahlen sich auch in den Wald, in den Schuppen mit der verbotenen Jukebox. Little Rock kam uns in seiner relativen Herrlichkeit vor wie New York City.
    Als Gary nach Judsonia zu Besuch kam, hatten wir das Gefühl, die personifizierte Coolness hätte bei uns Einzug gehalten. Neben Gary, der nervös zuckte und sich in unserem uncoolen Zuhause sichtlich unwohl fühlte, wirkte alles klein und schäbig. Der Teppich kam einem noch abgewetzter vor, alles wirkte noch unattraktiver als vor Garys Ankunft. Vielleicht war Gary so überwältigend cool, dass er auch noch die letzten erbärmlichen Restbestände an Coolness aus den Ecken und Ritzen eines jeden lausigen Ortes sog, den er betrat. Gary hatte lange Haare wie ein Ramone und eine Brille mit runden Gläsern auf der Nase. Ich wollte unbedingt von ihm gemocht werden, aber den Gefallen tat er mir nicht.
    Gary liebte Blues, das war die erste Musik, nach der auch ich völlig verrückt war. Ich stand total auf Leadbelly, der in den Bordellen von Shreveport in Louisiana als König der zwölfsaitigen Gitarre aufgetreten war. Er hatte im Knast, an seine Mitgefangenen gekettet, Zwangsarbeit leisten müssen, weil er bei einer Schlägerei einen Weißen erstochen hatte. »I was over in Arkansas«, hatte er gesungen. »People ask me what you come here for.« Gute Frage, Leadbelly!
    Ich liebte Ma Rainey, die Mother of Blues. Vielleicht war Ma Rainey sogar diejenige, die dieser seelenerweichenden, herzergreifend traurigen und irren Musik den Namen Blues gegeben hat. Sie tingelte durch die Varietétheater und war skandalöserweise bisexuell. In den Zwanzigerjahren wurde sie verhaftet, weil sie eine wilde Party gefeiert hatte, bei der alle Damen nackt waren. Ich versuchte, den coolen Gary aus Little Rock mit meinem umfassenden Wissen über diese wichtigen Musiker zu beeindrucken, und redete unaufhörlich auf ihn ein. Nach einem kurzen Blick auf Mom fixierte er mich und fragte: »Hältst du nie die Klappe?« Darüber musste ich ernsthaft nachdenken. Hielt ich jemals die Klappe?
    Â»Eigentlich nicht«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Ich glaube, ich halte nie die Klappe.«
    Er sah mich abfällig an und schüttelte den Kopf, seine Haare fielen ihm ins Gesicht. Er putzte sich die Brillengläser am T-Shirt ab und fragte an meine Mutter gewandt: »Was kann man hier anstellen, hm?« Wie ein Junge, der seine Eltern in irgendeinem scheintoten Vorort besucht, stand Gary über Judsonia, ebenso wie über mir und meinem Blues-Gequatsche.
    Und ich stand über Gary, egal, wie cool er war, egal, wie viel Großstadtglamour er ausstrahlte, wie viel er tanzte, rauchte und von lauter Musik verstand. Ihre Affäre endete nach seinem Besuch bei uns, und ich frage mich, ob das Leben, das meine Mutter führte – die Aussicht auf eine Zukunft, in der sie unvermeidlich immer wieder in das deprimierende Judsonia zu einer Bande ungezogener Gören zurückkehren würde –, zu viel für ihn gewesen war.
    Zuerst war ich froh, als sich Mom von Gary trennte und sie wieder öfter zu Hause war. Wenn sie uns allein ließ, wuchs meine Angst vor der Dunkelheit, der ich ohnehin nie ganz entkam. Meine Angst vor der Dunkelheit ist eine waschechte Phobie. Im Dunkeln kann ich nicht atmen, Panik kappt meine Atemwege wie eine Guillotine. Wenn ich ein dunkles Zimmer durchqueren muss, um zum Lichtschalter zu kommen, zähle ich in Gedanken zur Beruhigung die Sekunden. Ich kann kaum glauben, wie lange es dauert, während die anschwellende Dunkelheit die Zahlen
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