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Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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auswendig lernen. Oder Flüsse. Oder ausgestorbene Tierarten. Oder die Namen der Mondkrater. Auf der abgewandten Seite, von der Pink Floyd sang.
    Aufs Schlafen hatte ich noch nie besondere Lust gehabt. Das war schon im Kindergarten so: Punkt zwei Uhr mittags mussten alle Kinder die Augen schließen und auf Kommando wegdämmern. Ich blieb wach und dachte mir Geschichten aus. Meist bösartige über die anderen, friedlich neben mir schlummernden Kinder. Während sie schliefen, herrschte ich über sie. Ich beobachtete sie, wie ihnen die Spucke aus dem Mund lief und sie blöde Gesichter machten. Doch dann steckten mich Wiebke und Klaus in einen Kinderladen, aber nicht nur, weil man da mittags nicht schlafen musste. Wir durften die Wände bemalen und selber Marmorkuchen backen und dabei die Küche verwüsten. Wir zwickten der Kindergärtnerin Gisela, die eigentlich eher Kinderlädnerin heißen müsste, unterm Tisch in die Waden, und Gitte (so wollte Gisela von einem Tag auf den anderen genannt werden) zog uns an den Haaren und malte uns mit Fingerfarbe bunte Kringel ins Gesicht.
    Nachts, da gefiel mir alles besser. Niemand rief: »Bring den Müll runter, geh zum Briefkasten, bring Apfelsaft und Quark zu Erwin und Kar l – ach, und auch noch diesen alten Pullunder von Klaus.« Niemand baute sich im Treppenhaus vor mir auf, um mich auszufragen. Niemand machte sich über meine Brille lustig, die angeblich eine Kinderbrille war. Ich konnte laut »Alma Ata, Bagdad, Bangkok, Delhi, Istanbul, Jakarta, Kabul« vor mich hinsagen, ohne dass sich Melanie und Larissa aus meiner Klasse anstießen. Ich konnte darüber nachgrübeln, ob die Fünf eher eine weinrote oder eine anthrazitfarbene Zahl war und ob der Januar depressionsgrün (das Grün, mit dem in meinem Schulatlas die Gegenden der Welt markiert sind, die unter dem Meeresspiegel liegen) oder golfstromblau war, ohne dass irgendein ahnungsloser Erwachsener mich für merkwürdig erklärte.
    Und nachts, da sahen die sechs verbeulten Blechtonnen in unserem Hinterhof wie Gnome mit hochgezogenen Schultern aus. Manchmal beobachtete ich, wie sich ihre Deckel wie von Geisterhand öffneten und dunkle Schatten herausschlüpften. Dann wusste ich: Da waren sie wieder. Auf jeden Berliner kamen drei Ratten, das hatte uns Kugeritz letztens in Biologie erzählt. Neun Millionen Ratten, das musste man sich mal vorstellen. Ihr Höhlensystem war zehnmal ausgeklügelter als unseres, und wenn sie in ihren Bunkern, Gruften und Palästen die Polonaise tanzten, hatte es wenigstens Stil.
    Auch den Hauser hatte ich nachts für mich entdeckt. Denn seit ein paar Monaten leuchtete ein Fenster bis tief in die Nacht, manchmal auch bis zum Morgen. Es war ein warmes, orangerotes Licht, das in unseren schmalen dunklen Hof fiel. Das Licht stammte von einer bauchigen orangefarbenen Lampe aus den Siebzigerjahren, die neben seinem Bett stand. Die Wohnung im Hinterhaus hatte ein halbes Jahr lang leergestanden, sofern man eine Wohnung, die von einem Mehrgenerationenhaushalt an Ratten belegt war, als leer bezeichnen konnte. Eigentlich war sie überbelegt. Als der Hauser einzog, hatte er nur zwei alte Koffer bei sich. Wenige Tage später brachte er eine riesige verstaubte Rolle mit nach Hause und klebte sich die Hawaiitapete an die Wand. Klaus und Wiebke befanden sofort, sie sei entsetzlich geschmacklos. Nach und nach schleppte der Hauser immer mehr Sachen an. Das Meiste davon schien reparaturbedürftig zu sein. Oft saß er bei uns auf dem Hof und schraubte an alten Fernsehern, Radios, Plattenspielern oder Fahrrädern herum. Und natürlich an einem seiner Motorräder. Von meinem Fenster aus beobachtete ich den neuen Nachbarn in seiner Bude beim Platten auflegen, Gewürzgurken und Kartoffelchips essen, Bier trinken, Pornos (glaubte ich zumindest) gucken, sich die Eier kratzen und nackt zu lauter Musik tanzen. Und fand das alles spannend. Viel spannender als schlafen.
    Aber heute war er nicht da. Ich holte mein Hauser-Heft unterm Bett hervor und malte ein schwarzes Quadrat in mein Heft: mein Zeichen für sein dunkles Fenster. Alle Hauser-Beobachtungen wurden von mir sorgfältig notiert. Das rote Leinenbuch mit Blankoseiten, das ich mir für diesen Zweck gekauft hatte, zierte ein Marienkäferaufkleber, den ich meiner Tür vorenthalten hatte. Die Einträge darin waren sporadisch: Manche Tage schilderte ich ausführlich, andere nur stichpunkthaft. Manchmal ließ ich ganze Wochen aus, schrieb nichts nieder, manchmal hielt ich
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