Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hausers Zimmer - Roman

Hausers Zimmer - Roman

Titel: Hausers Zimmer - Roman
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
Vom Netzwerk:
die Nachrichten eines Tages oder einen Dialog in allen Einzelheiten fes t – oder Gedanken, die mir nachts, wenn ich wach lag, durch den Kopf wanderten wie nimmermüde Rattenlochratten.
    Es klapperte und rumpelte, Wiebke und Klaus waren nach Hause gekommen und bugsierten sich durch das Kunstchaos im ersten Flur. Dann entfernten sich ihre Schritte, Klaus ging, wie es klang, noch in sein Denkzimmer, Wiebke verzog sich wahrscheinlich in ihr Himmelbett auf einem unserer eingezogenen Böden. Und über dem Himmelbett, über Wiebkes geheimsten Gedanken, über ihren Alp- und Euphträumen (Euphträume hatte sich der Ü-Club ausgedacht für das Gegenteil von Alpträumen, es gab kein richtiges Wort dafür, hatten wir bemerkt) würde auch Wiebke es gleich rascheln, knistern und kauen hören. Denn in den Zwischenböden, über unserer Wohnung und unter dem ausgebauten Dachgeschoss von Herrn Wiedemann, auch da waren sie. Auch da machten sie die Nacht zum Tag. Und alle Tage zu Feiertagen.
    Ich lag im Bett und versuchte zu schlafen. Die Decke lag auf mir, als wäre sie aus Beton. Ich versuchte mich nicht mehr zu bewegen. Augen zu. Keine Bewegung. Kein Gedanke. Dann musste ich doch schlafen! Je schwerer die Decke auf mir lag, desto unruhiger wurde ich. Und das Ticken meines Weckers wurde immer lauter. Ich konnte nicht schlafen. Schließlich hob ich die Decke an, holte meinen Atlas ins Bett und las noch etwas über Patagonien, mein Geheimland, mein Traum-, mein Euphland: dort unten auf der Südhalbkugel. Allein beim Klang des Namens bekam ich eine Gänsehaut. Patagonie n …
    Irgendwann musste ich doch eingeschlafen sein.
    Müde lehnte ich mich am nächsten Morgen ans Fenster. Unten ging eine Tür auf, die Koderitz machte ihren ersten Gang mit Fred. Oder vielmehr machte Fred seinen ersten Gang mit der Koderitz, denn er wirkte deutlich munterer als sie. Die Koderitz trug entweder einen neongrünen oder einen neongelben Morgenmantel. Morgens, mittags, nachts. In ihrer Wohnung, auf dem Hof und beim Einkaufen, auf der Post. Und immer hatte sie, ob Minusgrade herrschten oder nicht, ihre einst rosafarbenen, jetzt grauen Hausschlappe n – oder wie sie sagte: Futsche n – an. Zwischen Drinnen und Draußen schien es für sie keinen Unterschied zu geben. West-Berlin war ihre große Altbauwohnung mit den vielen verstaubten Ecken, die man stets übersah, die ganze Stadt war ihr süffiges Sofa, ihr zerlegenes Kissen. Sie schlurfte über den von Baumwurzeln gewellten Boden, stolperte über ihre eigenen Füße. Fred wartete geduldig und geleitete sie sicher wie ein Blindenhund (warum sprach nie jemand von Säuferhund?) über den Hof, der wegen seiner vielen Unebenheiten, des Gerümpels vom Hauser, der Schrottsammlung von Herrn Olk und der Skulpturen von Herrn Kanz für nicht ganz nüchterne Zeitgenossen einige Tücken bereithielt.
    Eine halbe Stunde oder eine Schale Cornflakes, einen Kakao und zwei angefeuerte Kachelöfen später trottete ich hinter Isa und Fiona die Joachimstaler Straße entlang. Ich war immer die Letzte, weil ich so langsam ging. Und ich ging deshalb so langsam, weil ich mit meinen Gedanken woanders war. Falk ging zur gleichen Schule wie ich, war aber drei Klassen weiter und vermied es, mit uns Mädchen gemeinsam zu gehen. Er fuhr immer mit dem Rad zur Schule, bei jedem Wetter.
    Jetzt passierten wir »unsere« Apotheke. Ein schwarzhaariger Verkäufer, den ich noch nie gesehen hatte, trat vor die Tür und rückte die Fußmatte zurecht. Dann hängte er das Schildchen mit den Öffnungszeiten gerade. Ich ging noch langsamer. Im Schaufenster bewegte der Weihnachtsmann wieder in Zeitlupe seinen Arm. In seinen bauchigen Rumpf war eine Badeölflasche eingelassen, Latschenkieferextrak t – für freies Atmen! Frei klang immer gut. Immer frei! sang Ideal . In Zeitlupe senkte sich der Arm wieder. In Zeitlupe liefen Pechs mit ihrem Dackel draußen an uns vorbei, in Zeitlupe zog ein Vater sein Kind auf einem Schlitten über den Bürgersteig, sprang ein Hund über die Straße, fuhr eine Feuerwehr an uns vorbei, sank eine Taube auf einen Schneeberg. Blieb die Welt damals fast stehe n – oder war ich nur wieder so müde? Der neue Apotheker hantierte immer noch an dem Schildchen mit den Öffnungszeiten. Auch er hatte offenbar keine Eile. Schließlich schien er zufrieden und drehte sich langsam um. Für eine Sekunde trafen sich unsere Blicke.
    »Jule, wir verpassen den Bus!«
    Seit einem halben Jahr fuhren Fiona, Isa und ich täglich den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher