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Haus der Jugend (German Edition)

Haus der Jugend (German Edition)

Titel: Haus der Jugend (German Edition)
Autoren: Florian Tietgen
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dir deine Bettdecke holen?«
    Mein Vater setzte sich auf einen Sessel, vollführte mit der Hand eine einladende Geste, es ihm gleichzutun.
    »Danke. Wenn mein Sohn schon mal da ist, kann ich mich für die Zeit auch zusammenreißen.«
    Das Bücherregal an der Wand war der einzige Platz im Haus, der etwas Chaos zuließ. Bestimmt waren die Bücher alphabetisch sortiert, doch dadurch musste mein Vater den Eindruck des Durcheinanders in Kauf nehmen, sie auf Grund der unterschiedlichen Größe erweckten. Ich schaute nur kurz dahin, dann wieder zu meinem Vater. Er war etwas blass, sein Haar war zu einem Scheitel gekämmt, er wirkte frisch rasiert, nur unter den Augen lagen dunkle Schatten, die neben dem Schal und der geröteten Nase von der Erkältung zeugten.
    »Man hat mir gekündigt.«
    Mein Vater stand auf, »ich muss meinen Kamillentee trinken«, ging in die Küche, kam mit einer Tasse zurück, »möchtest du wirklich nichts trinken?«, setzte sich wieder, nachdem ich abgelehnt hatte.
    »Warum hat man dir gekündigt? Hast du dir nicht genug Mühe gegeben?« Er fragte ganz sachlich, als säße nicht sein Sohn, sondern einer seiner Schüler ihm gegenüber.
    »Doch«, sagte ich. »Das habe ich.« Der sachliche Abstand half mir, ihm knapp und zusammenfassend zu schildern, was passiert ist. Mein Vater blieb ruhig und angelehnt sitzen, stellte keine Fragen. Seine Hände hatte er entspannt auf den Armlehnen liegen. Die Tasse Kamillentee blieb unberührt auf dem Tisch stehen, bis ich meinen Bericht abgeschlossen hatte.
    »Hast du den jungen Mann angezeigt?«
    »Nein.«
    Erst jetzt trank er einen Schluck und behielt die Tasse in der Hand. »Selbst, wenn er dich einer Straftat bezichtigt, die du begangen hast, hat er nicht das Recht, persönlichen Vorteil daraus zu ziehen oder das auch nur zu versuchen.«
    »Ich weiß. Die Polizei sichert homosexuellen Erpressungsopfern sogar Straffreiheit zu, wenn sie Anzeige erstatten.«
    Noch immer blieb mein Vater entspannt zurückgelehnt, schlürfte in geringen Abständen seinen Tee und schien zu überlegen. »Du solltest ihn anzeigen.«
    Ich nickte, rutschte in meinem Sessel etwas zusammen, spürte einen leichten Druck im Magen, leichte Unruhe. »Ich traue mich nicht.«
    »Das liegt bei dir.« Mein Vater erhob sich und ging zum Bücherregal. Er strich über die Buchrücken, tippte mit dem Zeigefinger darauf als zählte er sie. »Weißt du«, sagte er, »als du klein warst, habe ich manche Schläge darauf verwendet, diese Neigung aus dir herauszuprügeln. Die Zeiten haben sich geändert. Heute setzt man auf andere Erziehungsmethoden.« Er sah mich nicht an, tippte weiter über die Buchrücken, bis er eines der Bücher herauszog und in die Hand nahm. »Die Schläge haben offensichtlich versagt. Vielleicht lässt sich diese Neigung nicht herausprügeln. Vielleicht gehört sie zu dir, wie du behauptest. Gleichwohl ist sie verboten.» Mit dem Buch in der Hand kehrte er zu seinem Sessel zurück, setzte sich, blätterte in den Seiten, ohne hineinzuschauen. »Ich wünschte, es wäre nicht so, aber du bist mein Sohn.« Er hielt für einen Moment inne, überlegte, während ich in meinem Sessel klebte, immer mehr nach unten rutschte und dachte, ich sollte aufstehen und gehen. Lieber noch eine Stunde in der Kälte auf den Bus warten, als …
    »Verzeihung«, fuhr er fort. »Natürlich bin ich froh, dich als Sohn zu haben. Ich wünschte nur, du würdest nicht so empfinden.« Er klappte das Buch zu, legte es mit der Vorderseite auf den Tisch, zu weit entfernt für mich, um danach zu greifen, und trank einen weiteren Schluck Kamillentee. »Schon unter Hitler war die Liebe unter Männern verboten. Und doch hegten einige unserer fähigsten Gruppenleiter sie, haben sich vielleicht nur der Hitlerjugend angeschlossen hatten, weil sie die Knaben so anziehend fanden und in der Kameradschaft ein Ventil dafür gefunden hatten. In vielen Fällen blieb uns nur, es zu vertuschen. Ich hätte nicht gedacht, dass mir das in diesen veränderten Zeiten noch einmal nützlich sein würde.«
    Langsam rutschte ich in meinem Stuhl wieder nach oben. Ich schluckte.
›Bloß nicht flennen‹
, dachte ich. Mein erkälteter Nazivater, so unerbittlich in seiner Strenge, war der Erste, der ruhig blieb. »Vertuschen?«
    »Vertuschen ist vielleicht das falsche Wort. Wir müssen einen Weg finden, wie du im Leben trotz dieser Neigung deinen Mann stehen kannst.« Er nahm das Buch wieder in die Hand, beugte sich zu mir, reichte es mir.
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