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Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)

Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)

Titel: Hauptsache nichts mit Menschen (German Edition)
Autoren: Paul Bokowski
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stehen, weil Geiz fast genauso gut zieht wie Mitleid. Das Schild schreibt man in Großbuchstaben. Das Wort »alles« allerdings mit nur einem »L«, das »N« von »halben« schreibt man spiegelverkehrt und in den i-Punkt von »Preis« macht man ein kleines Loch. Dann besorgt man sich ein Kind, am besten so schmutzig, dass man nicht genau sagen kann, ob Junge oder hässliches Mädchen, setzt es an den Tapeziertisch und versteckt sich hinter dem Schild, bis die ersten Leute kommen. Diese werden das Schild anschauen, das Kind, dann wieder das Schild und das spiegelverkehrte »N«. Und sie werden sich denken: »Ach, wie süß.« Ein wohlfeiles stumpfsinniges Lächeln wird über ihr Gesicht wandern, sie werden den Blick über die Auslage schweifen lassen und schließlich sogar den gröbsten Unfug an sich nehmen wollen. »Was soll denn das indianische Traumfängerchen kosten?«, werden sie fragen. (Ein Werbegeschenk von Bertelsmann.) Dann flüstert man »15 Euro« durch das Loch im i-Punkt. »15 Euro«, sagt dann das Kind, mit schwacher, flehender Stimme. Am besten sucht man sich ein Kind, das lispelt, in einem logopädischen Kindergarten vielleicht. Das geht immer noch ein bisschen besser. »Bitte!?«, werden die Leute sagen. »15 Euro!? Für so ein Traumfängerchen! Das ist aber schon ein bisschen teuer.« Dann flüstert man ein zweites Mal durch den i-Punkt, und das Kind soll sagen: »Wenn ich den Traumfänger nicht verkaufe, dann schlägt mich meine Mutter.« In den meisten Fällen wird das wirklich funktionieren. (Am besten allerdings auf dem Sonntagsflohmarkt am Arkonaplatz in Berlin-Mitte.)
    Während ich die Treppe in den vierten Stock hinaufstieg, ließ ich meinen Blick abermals über das Adressfeld schweifen. Tatsächlich hatte meine Mutter einen Fehler eingebaut. Sie hatte die Straße, in der ich damals lebte, falsch geschrieben. Lüderitzstraße. Mit »y« hinter dem »L« anstatt dem eigentlichen »ü«. Lyderitzstraße. Im Grunde ein polnischer Gewohnheitsfehler. Denn mit gewissenhafter Überzeugung schreiben die meisten schlesischen Spätaussiedler jedes deutsche Wort, in dem ein »ü« vorkommt, lieber mit »y«. Yberraschung, myde, gryn oder Yberweisung. Begegnet ihnen aber ein Wort, welches wirklich mit »Y« geschrieben wird, so regt sich Konrad Duden’scher Ehrgeiz in ihnen, und sie schreiben: »Psüchologie« oder »Labürinth«. Auch meine Eltern praktizieren diese schlesische Tradition seit nunmehr 30 Jahren. Einmal las ich »Labyrinth« sogar mit Doppel-»ü«: »Labürünth«. Kurzzeitig wähnte ich mich anatolischer Abstammung.
    Wer einmal in seinem Leben auf dem nationalen Schlesiertreffen in Hannover war und noch immer einen todsicheren Weg sucht, die mehr als treudeutschen Ostgebietler und zugleich einzigen NPD-Wähler mit Migrationshintergrund von ihrer angeheirateten Westverwandtschaft zu unterscheiden, dem seien folgende Prüfungen ans Herz gelegt. Zum einen ist es ratsam, den rechten Oberarm zu untersuchen. Ein Westarm ist glatt und unversehrt, während auf jedem Spätaussiedlerbizeps eine kreisrunde Narbe zu finden sein wird, als hätte man die slawische Jugend nicht mit einer Nadel geimpft, sondern mit einem Pritt-Stift. Reicht auch diese Information nicht aus, um Schlesier von Mutterländlern, Heimatvertriebenen oder Sudetendeutschen zu unterscheiden, so sei der slawischen Verdachtsperson zum anderen einfach ein Zettel und ein Stift in die Hand gedrückt und die Aufforderung mitgegeben, einmal das Wörtchen »Gynäkologenüberschuss« zu schreiben. Wird man nun »Günäkologenyberschuss« auf dem Zettel lesen, so kann man sich sicher sein, einen Menschen vor sich zu haben, der noch immer mit Sicherheit zu sagen weiß, welche Postleitzahl die freie Reichsstadt Danzig hatte.
    Als ich den vierten Stock erreichte, meine Wohnung betrat und die Tür hinter mir ins Schloss fiel, klingelte das Telefon:
    »Hallo Sohn. Bist du wach?«
    »Ja.«
    »Hast du meinen Brief gekriegt?«
    Ein letztes Mal drehte ich das Kuvert in meinen Händen.
    »Welchen Brief?«
    »Na, ich habe dir einen Brief geschickt.«
    »Einen Brief?«
    »Ja.«
    »Warum schickst du mir denn Briefe?«
    »Deine E-Mails liest du ja nicht.«
    »Du kannst doch zur Abwechslung mal anrufen«, sagte ich. Aber meine Mutter ist wie ein sechsjähriges Kind: Sie kann keine Ironie.
    »Warst du denn heute schon am Briefkasten?«
    »Ja. Gerade eben.«
    »Und?«
    »Kein Brief.«
    »Kein Brief?«
    »Nö.«
    »Gar keiner?«
    »Gar keiner.«
    »Kein
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