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Hasstament

Hasstament

Titel: Hasstament
Autoren: Serdar Somuncu
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provozieren will, dann hätte er Ihnen wahrscheinlich seine Trompete auf den Kopf gehauen. Es geht ja nicht darum, dass ich schräge Töne spiele, um Sie zu belästigen, sondern ich spiele die Töne, weil mir die anderen Töne nicht mehr gefallen, so wie ich nicht Dinge sage, um Sie zu provozieren, sondern ich sage Dinge auf eine Art und Weise, wie es mir am besten gefällt. Dass Sie das provoziert, hat etwas mit Ihrer Hörgewohnheit, mit Ihrer Sehgewohnheit und Denkgewohnheit zu tun.
    Meine Aufgabe als Künstler ist es vor allem, Denkstrukturen zu ändern. Dass dieses gelegentlich als Provokation empfunden wird, zeigt nur, wie schwer es immer noch ist, Denkstrukturen zu ändern. Letztendlich mache ich auf der Bühne ja nichts anderes als zu reflektieren. Ich bin bei Weitem nicht so schlimm wie das Fernsehen, aber sobald ich anfange zu sprechen wie der Fernseher, sind die Leute beleidigt. Weil ich sie mit etwas konfrontiere, empfinden sie das als Entfremdung. Auch im Theater erwarten die Leute oft einen ganz bestimmten Katalog von Verhalten: Man spricht schön, man benimmt sich anständig. All das zu verwischen sorgt für Irritation, wird aber oft verwechselt mit Provokation.
    Dabei ist das in anderen Kunstrichtungen gang und gäbe, z. B. in der Bildenden Kunst wird schon lange nicht mehr konkret gemalt, abstrakte Kunst ist für jeden etwas ganz Normales. Im Theater sehen wir seit 20 Jahren Nackte auf der Bühne und es ist oft das Einzige, was Regisseuren einfällt, um Grenzen zu sprengen. Ich versuche hier andere Wege zu gehen, ich versuche Alltag, Fernsehen, Vulgarität und Boulevard zu einem Sujet zu machen, das die Leute erreicht, so wie ich es aber auch vertausche, um es verwechselbar zu machen. Das ist für mich nicht Provokation.
    Provokation ist zwar manchmal ein Zugang zu diesem veränderten Denken, das ich anstrebe, aber wenn Sie mich nun fragen, ob ich es darauf anlege zu provozieren, kann ich nur sagen, nein, denn ich weiß nicht, wie ich Sie provoziere, weil ich nicht weiß, wo Ihre Grenzen sind. Alles in allem geht es mir um Differenzierung und nicht um universelle Antworten. Ich stelle lieber Fragen.
    Welche Rollen nehmen MigrantInnen in den Medien ein? Sind diese Rollen schon vorgegeben?
    Somuncu: Auch »Migrant« ist ja schon ein sehr schwer zu definierendes Wort. Migranten sind ja z. B. auch Russlanddeutsche oder Amerikaner. Die Migranten, über die wir hier reden, sind letztendlich die Türken. Und der Türke ist im Moment so etwas wie der »Prototyp des schlechten Ausländers«, mehr denn je vielleicht.
    Wir hatten etwa vor einigen Wochen eine neue Studie, die im SPIEGEL verbreitet wurde. Da schreibt der SPIEGEL ohne jegliche Zahlenangaben, die Türken seien die am schlechtesten integrierte Migrantengruppe. Da wird irgendetwas behauptet und in der Tat auf etwas zugearbeitet. Nämlich einer großen Vorurteilsindustrie. Und die agiert hauptsächlich in den Medien und in der Politik. Im »Tatort« gibt es gerade mal einen türkischen Kommissar, das ist dann schon eine Meldung wert – wenn es keine Meldung mehr wert wäre, dann wären wir schon viel weiter. Dann wären wir besser integriert und zwar nicht nur die Türken in die deutsche Gesellschaft, sondern auch die Deutschen in die deutsche Gesellschaft.
    In vielen Bereichen in den Medien sind die Türken nur die Kriminellen. Bei vielen Geschichten, die ich im Fernsehen sehe, kann ich nur ganz schnell abschalten. Sobald ich da dann Kopftuchfrauen sehe oder irgendeinen schnauzbärtigen Papa, der am Wohnzimmertisch sitzt und ein Gebetskettchen bei sich hat, merke ich, dass ein Deutscher versucht hat, ein Drehbuch über Türken zu schreiben. Hier sind wir noch ganz weit weg von wirklicher Integration. Das liegt zum einen daran, dass man den Türken als Kunstfigur weiterhin gerne stilisiert, während der Anspruch der deutschen Bevölkerung an die hier lebenden Türken immer noch der gleiche geblieben ist. Sie verlangen nämlich die Anpassung an ein originäres »deutsches Leitbild«. Aber dieses deutsche Leitbild existiert gar nicht. Der Türke kann nicht deutscher sein als der Deutsche sich traut deutsch zu sein.
    Deshalb wäre erstmal dieses Leitbild zu definieren. Dieses Leitbild wäre aus meiner Sicht ein multikulturelles. Und es können noch so viele reaktionäre Kräfte behaupten, es gebe in Deutschland keine multikulturelle Gesellschaft, die deutsche Sprache allein schon ist in ihrer Vielfalt von alemannisch, bajuwarisch, keltisch und nordischen
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