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Haltlos

Haltlos

Titel: Haltlos
Autoren: Cornelia Koenig
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es schwieriger mit seiner Wut und Trauer umzugehen. Er konnte dadurch die andere Liebe, die man ihm anbot, nicht annehmen. Es war, als blockierte seine Trauer alle anderen Gefühle. Tessa sah ihn nie lachen, sie sah ihn nie weinen. Wenn sie überlegte, welche Eigenschaft sie sofort mit Lukas in Verbindung brachte, dann war es unermessliche Wut. Wut auf seine Eltern, dass sie bei dem Unfall gestorben sind. Wut auf Josh, dass er versuchte ihren Platz einzunehmen. Wut auf Tessa, dass sie dies alles zuließ. Und nicht zuletzt die Wut auf sich selbst, dass er immer so wütend war. Er stellte oft Blödsinn an und zog sich immer weiter in sich zurück. Er redete kaum noch, jedenfalls weder mit Tessa noch mit Josh oder Miranda. Auch das gute Verhältnis, was die beiden Geschwister immer zu einander hatten, zerbrach unter all der Trauer. Es erlosch in demselben Augenblick, in dem Tessas und Lukas Eltern ihren letzten Atemzug machten. Lukas piesackte Tessa wo und wann immer er konnte. Er ließ all seinen Frust an ihr ab. Wollte sie in sein Zimmer, weil sie sich allein fühlte, schubste er sie raus, brüllte sie an und schmiss die Tür hinter ihr ins Schloss. Wenn er Fernsehen schaute und sie sich dazu gesellte, schaltete er den Fernseher aus, nahm die Fernbedienung mit und verließ das Wohnzimmer. Es schien beinahe so, als ob die Nähe seiner Schwester ihm Übelkeit bereitete. Tessa fühlte sich zeitweise wie eine Aussätzige, der man sich unter keinen Umständen nähern durfte, weil sonst etwas ganz schreckliches passieren würde. Miranda sagte ihr, dass es Lukas Art wäre mit seiner Trauer und seinem Verlust fertig zu werden. Er kappte einfach alle Verbindungen zu den Personen und Dingen, die er liebte oder die ihm etwas bedeuteten, um nicht noch einmal solch einen Schmerz zu erfahren. Im Laufe der Jahre gewöhnte sich Tessa an sein Benehmen und seine Schikanen. Sie gehörten zum Alltag. Jedoch änderte weder sein Verhalten noch seine Art etwas an der Liebe, die sie immer für ihren Bruder empfinden würde. Er war ihr letzter lebender Verwandter. Quasi ihr einziger Verbündeter gegen den Rest der Welt. Er war zurzeit nur etwas der Welt entrückt. Auch Josh behandelte ihn nicht weniger freundlich und liebevoll, wie er Tessa behandelte. Auch er ertrug Lukas Gefühlsausbrüche mit einer stoischen Ruhe, ertrug all seine Beschimpfungen und glättete nebenbei alles, was Lukas verdarb. Josh zitierte in solchen Situationen oft Josephine Wood „Menschen sind wir durch unseren Gedanken an den anderen.“ Nicht zuletzt diese Tatsache war es, die Tessa an Josh so liebte. Sie besuchte ihn gerne in der Kanzlei. Wenn sie sein Büro betrat, ließ er grundsätzlich alles stehen und liegen, schenkte ihr seine komplette Aufmerksamkeit. Oft verabredeten sie sich zum Lunch. Nur an jenem Tag, als sie Mike kennenlernte, war Josh zu sehr mit Lukas Verhandlung beschäftigt. Er hatte Tessa nur kurz begrüßen können, sie gebeten sich einen Tee zu nehmen und dann im Aufenthaltsraum auf ihn zu warten. Er versprach ihr ihre Verabredung nur um circa eine Stunde zu verschieben, doch als sie sich zur Tür drehte, sah sie, wie angespannt er war. Er wollte weder unvorbereitet in Lukas Verhandlung erscheinen, noch sie enttäuschen, indem er sie versetzen würde. Tessa ging also in den Aufent haltsraum, trank statt Tee lieber einen Kaffee, als er (Mike) den Raum betrat. Er war groß, muskulös – nicht einer von diesen aufgeblasenen „Pumpertypen“ -, hatte braunes Haar und bergseeklare Augen. Er trug einen Aktenband vor sich her und balancierte seinen doppelten Espresso zu einem leeren Tisch. Mike stolperte beinahe über Tessas Tasche. Gerade noch rechtzeitig, schaffte sie es ihre Tasche mit dem Fuß zur Seite zu stoßen, sonst wäre Mike in hohem Bogen auf die Nase gefallen. Er schaute sie an, entschuldigte sich und nahm an seinem Tisch platz. Nachdem Tessa ihren Tee ausgetrunken hatte, begab sie sich wieder zu Josh ins Büro. Er war so vertieft in die Akten, dass er sie gar nicht bemerkte. Sie schaute ihn ein paar Minuten bei der Arbeit zu und räusperte sich, als er sie immer noch nicht zu bemerken schien. Josh blickte zu ihr auf „Tess, ist es schon soweit? Die Stunde ist schon rum? Ach du liebe Güte, ich muss die Zeit vergessen haben.“ Hastig schob er die offenen Akten hin und her, unschlüssig, ob er sie zuklappen oder offen liegen lassen sollte, damit er nachher nicht lange suchen musste, um an der Stelle weitermachen zu können, wo er jetzt
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