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Halo

Halo

Titel: Halo
Autoren: Alexandra Adornetto
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machten Spaziergänge am Strand, meistens am Abend, wenn er so gut wie verlassen war. Eines Nachts gingen wir bis zum Pier und betrachteten die Boote, die dort festgemacht waren. Sie waren so bunt, als wären sie einer Postkarte entsprungen. Wir waren schon am Ende des Piers, als wir dort einen einsamen Jungen bemerkten. Er war vermutlich nicht älter als achtzehn, aber man konnte schon den Mann in ihm erahnen, der er einmal sein würde. Er trug Cargoshorts, die ihm bis zu den Knien reichten, und ein weites weißes T-Shirt mit kurzen Ärmeln. Seine muskulösen Beine baumelten vom Pier herunter. Neben ihm lagen ein Leinensack voller Köder und aufgerollte Schnüre. Er angelte. Wir blieben erschrocken stehen und wären am liebsten sofort umgedreht, aber er hatte uns schon gesehen.
    «Hi», sagte er mit offenem Lächeln. «Schöne Nacht für einen Spaziergang.» Meine Geschwister nickten nur und rührten sich nicht. Ich fand es unhöflich, nicht zu antworten, und trat einen Schritt vor.
    «Ja, das stimmt», sagte ich. Ich schätze, dass dies das erste Anzeichen meiner Schwäche war – meine menschliche Neugierde. Wir sollten den Umgang mit Menschen pflegen, aber uns niemals mit ihnen anfreunden oder sie in unsere Leben lassen. Und schon war ich dabei, diese Regeln unserer Mission zu missachten. Ich wusste, dass ich schweigen und fortgehen sollte, stattdessen aber zeigte ich auf die gebrauchten Angelschnüre des Jungen. «Hattest du heute schon Glück?»
    «Ich mache das hier nur zur Entspannung», sagte er und hob den Eimer so, dass ich hineinsehen konnte. Er war leer. «Wenn ich etwas fange, werfe ich es zurück ins Wasser.»
    Ich trat noch einen Schritt näher, um ihn genauer ansehen zu können. Sein Haar war walnussfarben und fiel ihm in die Stirn. In dem matten Licht hatte es einen schimmernden Glanz. Seine hellen Augen waren mandelförmig und auffallend türkisfarben. Aber es war vor allem sein Lächeln, das so anziehend war. So lächelt man also, dachte ich: ungezwungen, instinktiv und so absolut menschlich. Je länger ich den Jungen anschaute, desto mehr fühlte ich mich zu ihm hingezogen, beinahe wie von einem Magneten. Ich ignorierte Ivys warnenden Blick und machte einen weiteren Schritt auf ihn zu.
    «Willst du auch mal?», bot er mir an und hielt mir seine Angel hin. Er spürte wohl meine Neugierde.
    Während ich noch nach einer passenden Erwiderung suchte, antwortete Gabriel für mich. «Komm, Bethany. Wir müssen nun nach Hause gehen.»
    Ich bemerkte, wie förmlich Gabriel im Vergleich zu dem Jungen sprach. Gabriels Worte klangen wie auswendig gelernt, als ob er eine Szene in einem Theaterstück spielte. Genauso kam er sich wahrscheinlich auch vor. Er hörte sich an wie ein Schauspieler in einem der alten Hollywood-Filme, die ich zur Vorbereitung auf unsere Reise angeschaut hatte.
    «Vielleicht nächstes Mal», sagte der Junge, der Gabriels Anspannung wahrgenommen zu haben schien. Wenn er lächelte, hatte er kleine Falten um die Augen. Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck sagte mir, dass er sich über uns amüsierte. Widerstrebend trennte ich mich von ihm.
    «Das war so unhöflich!», sagte ich zu meinen Geschwistern, als wir außer Hörweite waren. Meine Worte überraschten mich. Seit wann machten sich Engel Gedanken darüber, dass sie zu reserviert wirkten? Seit wann verwechselte ich Gabriels kühles Auftreten mit Grobheit? Er war so geschaffen, er war nicht wie die Menschen – er verstand ihr Wesen nicht. Und trotzdem warf ich ihm vor, dass ihm menschliche Eigenschaften fehlten.
    «Wir müssen vorsichtig sein, Bethany», erklärte er mir, als hätte er es mit einem ungezogenen Kind zu tun.
    «Gabriel hat recht», fügte Ivy hinzu, wie immer auf der Seite unseres Bruders. «Wir sind noch nicht bereit für Kontakt zu den Menschen.»
    «Ich glaube, ich bin so weit», sagte ich.
    Ich drehte mich noch ein letztes Mal nach dem Jungen um. Er blickte uns lächelnd nach.

[zur Inhaltsübersicht]
    2 Fleisch geworden
    Als ich am Morgen erwachte, strömte Sonnenlicht durch die hohen Fenster und flutete den nackten Holzboden in meinem Zimmer. In den Lichtstrahlen tanzten aufgewirbelte Staubteilchen. Ich konnte die salzige Meeresluft riechen, hörte die Schreie der Möwen und das Geräusch der kraftvollen Wellen, die an die Klippen schlugen, und sah die vertrauten Dinge in dem Zimmer, das meins geworden war. Wer auch immer für die Einrichtung meines Zimmers verantwortlich war, hatte sich über die zukünftige
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