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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter
Autoren: Hölderlin
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zuwandte, und die Erzählungen »von früher« spärlicher wurden. Eigensinnig hielt er an »seinem Vater« fest.
    Es ist Herbst. Es kann sein, daß Johanna mit den Kindern noch einmal über den Klosterhof gegangen ist. Die Leute grüßen respektvoll.
    Er reist zum erstenmal und gleich für immer von einem Ort weg. Er wird sich an die Abschiede gewöhnen, an die Furcht vor stets neuer Fremde. Der Wagen fährt vor, es ist früh, man wird den ganzen Tag unterwegs sein. Ein anderer Wagen hat schon den Hausrat nach Nürtingen gebracht. Es ist kalt. In ein paar Tagen, am 10. Oktober, wird Johanna heiraten. Dann soll alles schon im neuen Haus geordnet sein. Vielleicht hat Bilfinger, der Freund, sie abgeholt.
    Bekannte kommen und bringen Abschiedsgaben. Sie laufen winkend neben der Kutsche her. Hier hat sie zu leben begonnen, mit welchem Schwung. Sie ist erleichtert, kann wieder leben.
    Es ist eine andere Kindheit als die meine, alles ist anders. Wenn er Entfernung denkt, denkt er sie anders als ich; er denkt sie als Wanderer, als Reiter oder als Passagier einer Pferdekutsche. Wenn er seine Kleider fühlt, fühlt er sie anders als ich. Sie sind enger, grober. Er weiß es nicht. Wenn er warm meint, sieht er andere Wärmespender als ich, auch das Licht ist anders für ihn. Wenn er Straße sagt, sieht er andere Straßen als ich, anders bevölkert, anders befahren.
    Ich muß mich in das Kind hineinfinden; ich muß es erfinden. Wenn einer 1777 sagt, er gehe jetzt über den Neckar in den Grasgarten, dann kenne ich den Weg, die Neckarsteige hinunter, doch schon das Tor ist nicht mehrda, und auch die Brücke hat anders ausgesehen. An der Neckarsteige standen kaum Häuser und nicht die, die ich erinnere, zum Beispiel aus den fünfziger Jahren die Bücherstube Hauber oder das alte Fachwerkhaus, in dem eine Elektrohandlung untergebracht ist; den Weg am Neckar kann ich mir noch vorstellen, aber das Wehr und das Elektrizitätswerk gab es nicht.
    Dort, wo sich der große Garten befand, am Neckarufer gegenüber der Stadt, stehen heute Häuser, und die Asphaltstraße nach Neckarhausen hat den Bereich geteilt. Dennoch gelingt es mir, den Garten wiederherzustellen, aus eigener, nicht mehr genauer Erinnerung: Kurz nach dem Krieg spielten wir dort öfter auf einem großen verwilderten Grundstück, das Gras reichte uns übers Knie, wir fanden an Sträuchern Stachelbeeren, Johannisbeeren.
    Im Nürtinger Haus wird er schwer heimisch. An die neuen Leute gewöhnt er sich allmählich, Bilfinger ist ihm vertraut, mit ihm und dem zweiten Vater sitzt er bisweilen im Weinkeller, atmet den Dunst von feuchtem Stein, Holz, Schwefel und Weinsäure. Er hört den Männern gern zu. Sie planen unentwegt. Außerdem ist er stolz auf den Vater, der beim Schultheiß auf dem Rathaus aus- und eingeht. Manchmal läuft er an der Hand des Vaters über den Marktplatz. Da ist der Brunnen. Nein, da ist der Brunnen nicht. Schon wieder trennt uns eine Erinnerung. Dieses Mal aber nur für eine Spanne von Jahren. Dann sehen wir beide den Brunnen. Denn der Zwanzigjährige, der Tübinger Stiftler, der an seine Mutter eben geschrieben hatte, er wolle bei der geistlichen Laufbahn bleiben, und dies wider Willen, nur um sie nicht durcheinanderzubringen, er hat den Brunnen gekannt, hat gehört, unter welchen Umständen er gesetzt worden ist, daß er in Königsbronn gegossen wurde, und daß Schlosser Eiselen das Schmiedeeisen angebracht hat. Das gehört zum täglichen Gerede: Kennst du den Koch von Oberboihingen, weißt du, den Orgelbauer, der hat den Brunnen vergoldet.
    Jetzt erinnern wir uns beide an den Brunnen.
    Es gibt kein Bild des Siebenjährigen. Erst mit sechzehn wurde er gezeichnet. Heute hätten wir ein Bündel von Fotografien. Die Hölderlins, die Goks hätten wie andere Familien ihre Chronik fotografiert. Der Kleine, der Allerkleinste, da in der Ecke, der warst du. Und der Mann lacht und wundert sich der alten Mutter zuliebe.
    Oft geht er hinunter zum Garten, dort ist er für sich. Zwar heißt es, er habe durchaus rauh spielen können, doch oft zieht er sich zurück, und der Garten macht dem Kind die Flucht leicht. Nimm die Rike mit, ruft die Mutter. Manchmal gelingt es ihm, ohne die Schwester fortzukommen. Muß er Rike mitnehmen, zieht er sie in einem Wägelchen hinter sich her. Er spielt Pferd oder Reiter oder Postmeister. Er redet auf Rike ein, ohne eine Antwort zu erwarten. Irgend jemand wird damals schon festgestellt haben, daß er mundfertig sei. Einmal galoppiert
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