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Härtling, Peter

Härtling, Peter

Titel: Härtling, Peter
Autoren: Hölderlin
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Landschaft schaut. Vier Jahre war Hölderlin alt, als seine Mutter von neuem heiratete; zehn, als der zweite Vater starb. Das schreibt sich so hin.
    Ängste konnte der Junge vor dem Neuen nicht empfinden: Gok war ja als Onkel dagewesen, in Lauffen, und unversehens war er Vater, ersetzte einen anderen, den Hölderlin nicht erinnern konnte, ein Bild, das er sich später einreden würde, zwei Vaterbilder gegen das übermächtige Mutterbild setzend.
    Johanna hatte Gok als Freund ihres Mannes kennengelernt. Auch mit Bilfinger war er befreundet, mit ihm gemeinsam betrieb er eine Zeitlang in Nürtingen eine Weinhandlung. Sie kannte ihn. Kannte sie ihn gut? Vielleicht hatte er ihr schon zu Lebzeiten ihres ersten Mannes gefallen. Vielleicht hatte er weniger zum Großspurigen geneigt, war bescheidener aufgetreten. Und sie hatte insgeheim verglichen. Gok wird an der Beerdigung Hölderlins teilgenommen haben. Hat er sie gleich danach besucht, hat er sie getröstet, sie beraten? Oder hat er sich zurückgehalten und diese Hilfen Bilfinger überlassen?
    Dann werden sich, im Rahmen des Schicklichen, Besuche gehäuft haben.
    Er hat sich mit den beiden Frauen unterhalten. Grüß Gott, Frau v. Lohenschiold. Grüß Gott, Frau Hölderlin.
    Er hat kleine Geschenke mitgebracht.
    Er hat mit dem Fritz gespielt. Er hat die Rike in ihrer Wiege betrachtet und sich immer wieder darüber erstaunt gezeigt, wie gut sie gedeihe.
    Er hat sich gewiß nicht eingeschlichen.
    Irgendwann, im Laufe des Jahres 1773, wird er sie gefragt haben, ob sie seine Frau werden wolle.
    Sie werden über eine Frist nachgedacht haben. So rasch trennt sich niemand von Erinnerungen.
    Wahrscheinlich wird Bilfinger vermittelt haben.
    Ja, sagt sie, gut, s’ isch recht, ’s wird’s beschte sei.
    In solchen Gesprächen versichert man sich nicht seiner Liebe.
    Gok, aus der Heilbronner Gegend stammend, ist so alt wie Johanna Hölderlin. Sie sind, nach heutigem Verständnis, bei ihrer Heirat beide jung: sechsundzwanzig; sie freilich schon Mutter von drei Kindern, verstört und mißtrauisch: daher legt sie auch Wert auf eine Feststellung der Vermögen, daß eine Gütertrennung vorgenommen werde – die Familie braucht sich fürs nächste keine Sorgen zu machen; überdies ist der listigen Tatkraft Goks zu trauen.
    Ich erzähle von einem Leben, das vielfach erzählt wurde, das sich selbst erzählt, aber auch verschwiegen hat. Die Daten sind zusammengetragen worden. Ich schlage nach, bekomme Auskunft, aber wenn es dann heißt, Gok kauft am 30. Juni 1774 den Schweizer Hof an der Neckarsteige in Nürtingen, tritt meine Erinnerung hinzu, denn in Nürtingen habe ich dreizehn Jahre lang gelebt, länger als Hölderlin, und ich kenne den Schweizer Hof als eineSchule, die seinen Namen trägt, die nicht mehr dem gleicht, was so beschrieben wird: »Ein sehr stattliches Anwesen, mit landwirtschaftlichen Gebäuden und Kellern« – da bin ich Tag für Tag vorbeigegangen, es ist ein mächtiges Haus, auf Felsen gebaut wie die Stadtkirche, die in den Granit geschlagenen Keller wird es noch geben, und die Terrasse wird früher der Garten gewesen sein oder der Hof. Gok hat dafür 4.500 Gulden zahlen müssen (rechnete man es um, käme man auf etwa 70.000 Mark).
    Das kenne ich also. Aber er kannte es anders.
    Eigentümlich, daß das Kind kaum sichtbar wird. Die frühen Träume hat Hölderlin später nicht nachgeredet, er hat sie allenfalls überhöht, in Visionen hineingetrieben, in denen diese einfache Umgebung verblaßt. Er wird von niemandem verschwiegen, er ist eben dabei. Eines von drei Kindern. Keine Last, doch eine dauernde Sorge. Auch das, was rundum im Land geschieht, bleibt gleichgültig, wird nur manchmal in den Kommentaren des Vaters angedeutet, der sich mit den Finanzen der Gemeinde plagen muß, der auf die Beamten des Hofes flucht, sich in seine eigenen Geschäfte rettet.
    Die Kinder hatten sich an Gok gewöhnt, manchmal fuhr die Mutter mit ihnen nach Nürtingen, und sie mußten bei der Tante Lohenschiold bleiben. Johanna hat ihnen gewiß erst kurz vor dem Umzug nach Nürtingen gesagt: Der Onkel Gok wird euer Vater.
    »Der zweite Vater.« Diese Mitteilung verändert den Mann. Der Bub hat mit ihm gespielt, sich über Geschenke gefreut, doch wie hätte er über den aufmerksamen Besucher nachdenken sollen – es war eben der Onkel Gok. Nun ersetzt er den anderen, den Schatten, den »wirklichen Vater«, der immer wieder aus der Erinnerung derMutter trat, bis auch sie sich der Gegenwart
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