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Hades und das zwoelfte Maedchen

Hades und das zwoelfte Maedchen

Titel: Hades und das zwoelfte Maedchen
Autoren: Aimée Carter
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verändert, aber noch nie mit dem Ziel einer so weitreichenden Täuschung. „Du siehst ja halb verhungert aus, du armes Kerlchen. Ich bin Matilda. Dann wollen wir dir mal ein schönes warmes Stück Brot besorgen, bevor du zu den anderen Kindern kommst.“
    Als sie ihm die Hand an die Schulter legte, um ihn die Treppe hinaufzuführen, ließ Diana ihn los, und Henry runzelte die Stirn. Sieht so dein Plan aus? Du willst mich als Waisenkind hierlassen?
    Hast du einen besseren Vorschlag? Sicher nicht . Er hörte die Selbstzufriedenheit in ihrem Ton und seufzte.
    Woher soll ich denn wissen, welche es ist?
    Oh, das wirst du schon merken. Falls du irgendwelche Fragen hast, Bruder, du weißt ja, wo du mich findest. Und bevor du sie von vornherein ablehnst, tu dir einen Gefallen, und gib ihr eine Chance. Man kann nie wissen, was passiert .
    Henry hatte nicht wie Theo Zugang zu mächtigen Orakeln, aber er war sich relativ sicher, dass dies nicht viel mehr als ein vager Versuch war. Zu behaupten, ein kleines Mädchen könnte zu ihm passen, war der reinste Irrsinn, und auch wenn er die Verzweiflung seiner Schwester nachvollziehen konnte – das ging zu weit.
    Er würde verschwinden. In Wahrheit würde er dem Mädchen damit sogar einen Gefallen tun. Würde ihr die Gelegenheit geben, ihr Leben so zu leben, wie es vorgesehen war, ohne den Herzschmerz, den ihr eine Ewigkeit an seiner Seite bescheren würde. Zwar hatte er Diana versprochen, es zu versuchen, aber wozu? Um dieses Mädchen in der Unterwelt gefangen zu halten? Sie zu zwingen, seine Freundin zu sein, während sie sich nichts sehnlicher wünschte als die Freiheit? Es war hilfreich, dass sie keine Familie hatte, die sie vermissen konnte, gewiss, aber er könnte sie auch nicht ersetzen. Diesen Fehler hatte er schon einmal gemacht.
    Matilda brachte ihn in ein Zimmer, in dem ein Dutzend Betten in zwei ordentlichen Reihen dicht an dicht aufgestellt waren. „Hier sind die anderen Kinder in deinem Alter“, erklärte sie. „Warum machst du dich nicht mit ihnen bekannt, während ich dir eine warme Mahlzeit besorge?“
    Henry antwortete nicht. Stattdessen musterte er die anderen Kinder, suchte nach einem Mädchen, das Ingrid heißen mochte. Ein paar von ihnen hielten in ihren Spielen inne, um ihn anzustarren, sowohl Mädchen als auch Jungen, aber an keinem von ihnen schien etwas außergewöhnlich zu sein. Und Diana hätte jemand Besonderen ausgewählt, da war Henry sich sicher.
    Doch sie sahen alle vollkommen gewöhnlich aus. Sauber und wohlbehütet, das schon, aber niemand stach hervor. Sie hatten sich in drei Gruppen zusammengefunden, von denen jede ein Drittel des Zimmers beanspruchte, und niemand lud ihn ein mitzumachen. Nicht, dass er ihre Erlaubnis gebraucht hätte. Die Vorstellung, eine Gruppe von Sieben- bis Zehnjährigen könnte ihn, den Herrn der Unterwelt, ausschließen, war lächerlich. Und doch stand er hier.
    „Du bist Henry, stimmt’s?“ Von der Tür ertönte eine hohe, fast singende Stimme, und er wandte sich um. Hinter ihm stand ein Mädchen mit zwei blonden Zöpfen, in den Händen eine Schüssel mit etwas, das nach Brühe roch. Und auch wenn er nach ihr Ausschau gehalten hatte, wich ihm unter dem Schock der ersten Begegnung mit ihr das Blut aus dem Gesicht.
    Dies war Ingrid. Er wusste es so sicher, wie er sich selbst kannte, und auch wenn sie in keiner Weise außergewöhnlich wirkte, schlug alles an dem Mädchen eine Saite in seinem Innern an. Die Güte in ihren blauen Augen, die schüchterne Röte auf ihren Wangen, die Art, wie ihre zierliche Gestalt in ihm den Wunsch weckte, sie vor all den schlimmen Dingen zu beschützen, die sie an diesen Ort gebracht hatten. In ihr sah er etwas – etwas Weiseres und Tiefgründigeres als bei den anderen. Etwas, das er nicht erklären konnte. Aber es war dort. So viel wusste er.
    „J…ja, ich bin Henry“, antwortete er, überrascht, wie hoch seine Stimme klang. War er je zuvor so jung gewesen? Er war sich sicher, dass das nicht der Fall war. „Ist das für mich?“
    Das kleine Mädchen nickte, und er nahm die Schale entgegen, vorsichtig, damit er nichts verschüttete. Mit dem reichhaltigen Essen, das er gewohnt war, hatte das nicht viel zu tun, aber in dem Duft, der davon aufstieg, lag etwas unleugbar Heimeliges. Mittendrin schwamm ein durchtränkter Zwieback, und das Mädchen wurde rot, als sein Blick darauf fiel.
    „Oh! Tut mir leid. Ich kann dir noch einen holen.“ Ihre Hände waren schon auf halbem Weg zu der
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