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Hades und das zwoelfte Maedchen

Hades und das zwoelfte Maedchen

Titel: Hades und das zwoelfte Maedchen
Autoren: Aimée Carter
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Schale, als Henry sie zurückzog.
    „Nein, ist schon in Ordnung“, beruhigte er sie. „Das riecht gut.“ Er ließ sich auf dem Holzfußboden nieder und winkte ihr, sich zu ihm zu setzen. „Wie heißt du?“
    „Ingrid“, sagte sie mit einem leichten Akzent, den er nicht einordnen konnte, und gesellte sich zu ihm. Hungrig linste sie auf seine Suppe hinab, und wortlos hielt er sie ihr hin.
    „Ich bin eigentlich gar nicht so hungrig“, erklärte er, und nach einigem Zögern aß sie einen Löffel voll, zusammen mit einem Stück des hineingefallenen Zwiebacks. „Hast du noch nichts gegessen?“
    Sie zuckte mit den Schultern. „Vorhin hatte ich keinen Hunger“, flüsterte sie. „Ich hatte so ein komisches Gefühl im Bauch, da hat sich alles gedreht.“
    Wie sollte er das interpretieren? Hatte Ingrid gewusst, dass er auftauchen würde? Hatte sie es irgendwie gespürt? Wusste sie etwa, dass an ihm etwas Besonderes war, so wie er es von ihr wusste?
    „Du kannst essen, so viel du magst“, versicherte er ihr. Nach einem kurzen Seitenblick zu den anderen schlang sie das Essen so hungrig hinunter, dass sie zwischendrin gerade noch Luft holen konnte. Mit einem leichten Lächeln sah er ihr zu – sie erinnerte ihn ein wenig an Cerberus zur Fütterungszeit. Aber obwohl sie so jung war, bekam sie es hin, ohne auch nur einen Tropfen zu verschütten.
    „Willst du mein Freund sein?“, fragte sie zwischen zwei Happen mit jenem schüchternen Wagemut, wie ihn nur Kinder aufbringen. „Ich hab nicht so viele Freunde.“
    „Das fände ich gut“, erwiderte Henry. „Ich hab auch nicht so viele.“
    „Dann bist du jetzt mein Freund.“ Nachdem sie sich die letzten Tropfen in den Mund gekippt hatte, setzte sie schließlich die Schale ab. Sie hatte nicht einen durchtränkten Bissen übrig gelassen. „Und wir werden gute Freunde sein, stimmt’s?“
    „Die besten“, versprach Henry. Es verging ein Moment, und sie betrachtete ihn mit ihren weisen Augen, als könnte sie direkt in sein Innerstes schauen. Als wüsste sie ganz genau, wer und was er war.
    „Warum bist du hier?“, fragte sie übergangslos, und Henry zögerte. Wusste sie es tatsächlich? Oder fragte sie nur nach dem vermeintlichen Schicksal seiner Eltern?
    „Warum bist du hier?“, entgegnete er.
    „Weil“, flüsterte sie, „ich eine Familie will.“
    Henry lächelte. „Darum bin ich auch hier.“
    „Gut. Jeder braucht eine Familie.“ Sie drückte seinen Arm und zog ihn auf die Beine, erstaunlich kräftig für so ein zierliches Mädchen. „Komm, ich zeig dir meine Puppe.“
    Mit derselben Geduld, wie Diana sie noch vor wenigen Minuten ihm gegenüber gezeigt hatte, ließ er sich von ihr mitziehen. Es war seltsam, und wie alt sie auch sein mochte, er konnte sich nicht vorstellen, jemals jemanden auf dieselbe Art zu lieben wie Persephone. Aber vielleicht wäre es gar nicht so schlimm, eine Freundin zu haben.
    An Ingrids achtzehntem Geburtstag eröffnete er ihr schließlich, wer er wirklich war.
    Nach elf Jahren an ihrer Seite kannte er sie besser als sich selbst; er wusste, dass sie weinen würde. Er wusste, dass sie verwirrt sein und mehr Fragen stellen würde, als er je beantworten könnte.
    Womit er nicht gerechnet hatte, war ihre Akzeptanz.
    Trotz seiner Täuschung hatte sie aus irgendeinem Grund seine Hand genommen, ihn auf die Wange geküsst und ihn gebeten, ihr die Unterwelt zu zeigen, seine Welt und alles, was sein Leben ausgemacht hatte, bevor er sie kennengelernt hatte. Anfangs war er versucht gewesen nachzugeben, doch noch nie hatte er einen lebendigen Sterblichen dort hinuntergebracht, und irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen.
    Stattdessen nahm er, als die Prüfungen begannen und seine Geschwister Ingrid unter Beobachtung nahmen, eines der schon lange leer stehenden Anwesen wieder in Betrieb, die er für Persephone errichtet hatte. So viel war er Ingrid schuldig: Ihr einen Ort zu schaffen, an dem sie Zuflucht finden konnte, wenn ihr die Unterwelt zu viel wurde. Bei ihr würde er nicht dieselben Fehler begehen. Sie würde keine zweite Persephone werden, und was es ihn auch kosten mochte, sie würde glücklich sein.
    Genau wie er, vermutete er. Ihre Freundschaft war nicht mehr als das – für Ingrid mochte es mehr sein, aber er brachte es noch immer nicht über sich, sie mit allen Konsequenzen zur Frau zu nehmen. Er liebte sie innig, mehr als jeden anderen seit Persephone, aber diese Liebe war platonisch. Und ob sie das akzeptierte oder nicht,
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