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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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zurückbleiben.«
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Lilly. Ich hatte nicht gewusst, wie liebevoll sie sein kann.
    »Ja, das hat Mama auch gesagt.«
    Mama. Ich hatte Sehnsucht nach ihr. Die Laubenkolonie gibt es schon lange nicht mehr, hörte ich im Geiste den Taxifahrer und dann Mamas Warnung: Ich bin für eine längere Zeit verreist.
    »Ist Mama wieder zurück? Sie lebt doch noch?«, fragte ich atemlos.
    »Ja, sie lebt und wartet auf dich in ihrer Laube.«
    Mama lebte. Sie wartete auf mich. Ich atmete erleichtert durch und war einen Augenblick still. Lilly ließ mich in Ruhe. Ich genoss die Gewissheit, die Menschen, die ich liebte wiederzusehen. Ein berauschend glückliches Gefühl. Ich würde sie wiedersehen und umarmen können und mit meiner Mutter endlich über unsere Vergangenheit reden. Um das zu tun, brauchte ich Gewissheit. Ich konnte mich nicht mehr davor drücken und musste die Frage stellen, die mir schon so lange auf der Seele brannte.
    »Habe ich Steve umgebracht?«
    »Nein, das hast du nicht«, antwortete Lilly kurz und bündig. Ohne weitere Erklärungen nachzuschieben. Sie sagte wirklich nur das, was man sie fragte.
    Ich überwand mich: »Lebt er noch?«
    »Nein.«
    »Hast du ihn getötet?«
    »Nein, das habe ich nicht. Ich habe ihm nur einen Wunsch erfüllt.«
    »Einen Wunsch erfüllt«, wiederholte ich verständnislos. »Der Scheißkerl durfte sich was wünschen?«
    Als Lilly nicht antwortete, sagte ich: »Erzähl mir, wie es in der Nacht damals weitergegangen ist!«
    Ohne zu zögern, als hätte sie nur auf diese Aufforderung gewartet, begann sie zu erzählen.
    »An jenem Vorabend zu deinem 15. Geburtstag habe ich mich ungewöhnlich müde gefühlt. Als brütete ich eine Krankheit aus. Gleichzeitig kreiste in mir eine Unruhe. Ich habe gewusst, ich sollte ihr nachgehen. Irgendein Unheil braute sich zusammen. Aber ich war so entsetzlich schlapp und gab der Schwere meines Körper nach. Ich habe mich schlafen gelegt. Im Traum habe ich dann dich und Lena und Steve gesehen. Ich war sofort hellwach, habe mich angezogen und bin losgelaufen, um euch zu helfen. Wir wissen alle, dass es zu spät war. Du siehst, die Schuldfrage zu klären, ist nicht nur schwierig, sondern unmöglich und obendrein unnötig. Wenn, dann müsste ich sie mir geben. Ich bin aus Bequemlichkeit der warnenden Stimme nicht rechtzeitig gefolgt.
    Du bist mit deiner Mutter für eine Nacht ins Krankenhaus gekommen. Und ich bin zu Steve gegangen. Ich wusste, dass er lebte.
    Steve saß im Wohnzimmer. Er hatte sich ein Kühlelement auf den Schädel gepackt und sah seelenruhig fern. Dieses friedliche Bild, seine offensichtliche Ahnungslosigkeit, was er angerichtet hatte, machte mich wütend. Und ich werde selten wütend. Ich habe ihm die Tatsachen schonungslos an den Kopf geworfen. Dass ihr mit einem Schock im Krankenhaus liegt und Lena – Lena tot ist.
    Ich habe ihn vor die Wahl gestellt, sich selbst wegen eines Vergewaltigungsversuchs und mehrfacher Verführung Minderjähriger anzuzeigen, oder ich übernehme das.
    Das hat Wirkung gezeigt. Seine glatte Fassade ist in sich zusammengefallen. Er wusste, dass er mich mit seinem Charme nicht manipulieren kann. Ihm war klar, dass ich ihn nicht leiden konnte. Da hat er sich aufs Betteln verlegt. Widerlich, als wäre er ein kleiner Junge, den man für sein Handeln nicht zur Verantwortung ziehen konnte. Dem man verzeihen musste. Er hat herumgejammert, dass es furchtbar und für ihn selbst unfassbar wäre. Aber als er dich mit deinem Freund gesehen hätte, da wäre es über ihn gekommen. Eine fremde Macht sozusagen. Und er würde versprechen, eine Therapie zu machen. Er empfände seinen Hang zu jungen Mädchen als unerträgliche Last. Eine seelische Folter. Seine geheuchelte Einsichtigkeit und seine Unterwürfigkeit haben mich immer wütender gemacht. Vor allem, weil seine Gedanken nur um seine Person kreisten. Er tat so, als wäre er das Opfer. Nicht eine Träne, keine Trauer um seine kleine Tochter. Er suchte nur einen Ausweg, um seine Haut zu retten.
    Glaub mir, Michelle. Wenn ich so eine Hexe aus dem Märchen wäre, dann hätte ich ihn in dem Augenblick in eine Kakerlake verzaubert und zertreten. Höchstpersönlich. So wütend war ich. Aber ich wusste auch, dass meine eigenen Schuldgefühle, zu spät gekommen zu sein, mein Denken beeinflussten und ich mich dem zerstörerischen Gefühl der Rache nicht hingeben durfte. Ich habe versucht, mich aus meiner Wut zu befreien.
    Steve gab nicht auf.
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