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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Er fiel sogar vor mir auf die Knie: »Ich weiß, du kannst mich nicht leiden. Aber hör mir zu. Lena wird nicht wieder lebendig, wenn ich zur Polizei gehe. Aber für Hannelore und Michelle beginnt ein Spießrutenlaufen. Wenn ich einfach von der Bildfläche verschwände, wäre ihnen mehr geholfen. Die beiden kämen zur Ruhe.«
    So weit kannst du gar nicht verschwinden, dachte ich.
    Da sagte er: »Ich wollte schon immer nach Afrika und die Viktoriafälle sehen. Das ist mein größter Wunsch. Und einmal den Sambesi entlangschippern. Ich würde noch heute Nacht losfahren. Lass mich gehen.«
    Dieser Wunsch war ehrlich. Zum ersten Mal hing etwas wie Wahrheit im Raum. Meine aufgewühlten Sinne glätteten sich. Ich wurde ruhig. Ganz ruhig. Da wusste ich, dass ich ihm den Wunsch erfüllen sollte.«
    »Er ist nach Afrika ausgewandert«, fragte ich ungläubig. »Also lebt er doch noch?«
    Lilly atmete tief durch. »Das kommt darauf an, wie man leben interpretiert.«
    »Lilly, bitte! Gib mir jetzt keine Rätsel auf!«
    »Gut, dann sollst du eine klare Antwort bekommen: Steve ist Krokodilfutter geworden.«
    Mein Unterkiefer rutschte wieder einmal in die unschöne Position. »Krokodile. Du meinst …?«
    »Ja!«
    »Und Mama weiß das nicht?«
    »Nein, sie wollte nicht wissen, was aus Steve geworden ist.«
    »Das ist wirklich …«, ich suchte nach einem treffenden Ausdruck. Vor meinem geistigen Auge tauchte Steve in der afrikanischen Idylle am Flussufer auf – und schnapp. »Das ist wirklich Wahnsinn, Lilly. Was für eine ungewöhnliche Strafe.«
    »Nein, Michelle, das war keine Bestrafung. Ich habe ihm nur seinen Wunsch erfüllt. Fürs Bestrafen bin ich nicht zuständig.«
    »Könntest du nicht mal eine Ausnahme ma­chen?«
    »Nein, selbst wenn ich es wollte.«
    »Das ist jammerschade. Ich kenne da jemanden, der hätte eine saftige Strafe verdient.«
    »Was würdest du demjenigen denn wünschen, wenn du könntest?«, fragte Lilly.
    »Dass er sich in seinem eigenen Spinnennetz verfängt!«, brach es aus mir heraus. »Er müsste am eigenen Leib spüren, was es bedeutet, Angst zu haben. Angst, die einem die Luft abschnürt. Angst, an der man sterben kann. Aber jemand, der so eine ekelhafte Tat begeht, der gruselt sich vor nichts.«
    Ich holte tief Luft. Lilly sagte kein Wort.
    »Weißt du überhaupt, von wem ich spreche?«, fragte ich.
    »Ja, von Norbert«, antwortete Lilly ruhig. Wie hatte ich das infrage stellen können? Sie wusste es. Selbstverständlich.
    Ich überlegte weiter. »Du bist nicht fürs Bestrafen zuständig, okay. Also überlassen wir es der Justiz. Handfeste Beweise müssten her. Glaubst du, wenn die Polizei noch Spinnen im Arbeitszimmer finden würde, das könnte ausreichen? Vielleicht noch eine Bisswunde an der Leiche. Man könnte sie exhumieren. Das wäre doch sicher in deinem Machtbereich, oder?«
    Lilly antwortete mit einem klaren: »Nein!«
    »Du kannst keine Spinnen in sein Arbeitszimmer zaubern?«
    »Doch, so viele du willst. Aber sie würden Magdalene nicht weiterhelfen. Im Gegenteil. Denk nach.«
    »Du meinst, der Neffe würde den Spieß umdrehen. Womöglich behaupten, sein Onkel hätte die Tierchen selbst gehalten und sie liebend gern mal über seinen Arm krabbeln lassen. Magdalene wäre die Hysterikerin gewesen. Sie hätte schon immer seine Vorliebe mit Abscheu beobachtet. Stimmt! Norbert ist skrupellos und dazu auch noch schlau.«
    Ich sackte in mich zusammen. Ich hätte Magdalene so gern geholfen, in ihr Leben zurückzufinden.
    »Der kann doch nicht einfach davonkommen, als wäre nichts geschehen, dieser Mistkerl. Erst bringt er seinen Onkel eiskalt um und dann macht er seine Tante fix und fertig. Und alles nur wegen des schnöden Mammons. Alles dreht sich nur um Geld. Andere Werte zählen für ihn nicht.«
    Geld, hallte es in meinem Kopf nach. Geld!
    Ich setzte mich wieder gerade hin. »Lilly, ich habe eine Idee.«
    »Ich höre dir zu, Michelle«
    »Du hast mich in einen alten Körper gesteckt. Für alle Menschen sichtbar, nur für mich nicht. Das hat mich fast verrückt gemacht. Was wäre, wenn Magdalenes Neffe seinen Kontostand nicht mehr erkennen könnte. Wenn dort für ihn, nur für ihn, keine Zahlen mehr ständen. Nur noch Nullen.«
    Lilly lachte anerkennend. »Ein famoser Einfall.«
    »Das kannst du?«
    »Ja.«
     
    Interview: weiblich, 47 Jahre
     
    Beim Wort ›alt‹ denke ich an Bäume. Die haben schon so viel gesehen. Kinder, Verliebte und auch Menschen, die im Krieg waren. Die sich
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