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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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umgebracht haben. Milchkannen fallen mir ein. Holunderbeeren pflücken mit meiner Oma. Obst einwecken. Schön, antik, wertvoll, gebraucht, Erfahrung und Weisheit.
    Ich mag es nicht, wenn alte Menschen zum falschen Zeitpunkt einkaufen. Obwohl ich mir vorstellen kann, dass sie die Nähe mögen, wenn es so voll ist. Aber sie sind kleine Zeiträuber. Vielleicht denken sie einfach nur nicht darüber nach, weil sie zu dem Zeitpunkt immer einkaufen gegangen sind. Genau diese Einstellung mag ich nicht. Wenn sie so eingefahren sind, dass sie ihre Gewohnheiten nicht mehr überdenken können, den veränderten Gegebenheiten anpassen.
    Ein Paradebeispiel: Samstagmorgen. Die Schlange vor der Supermarktkasse reicht bis hinten zum Fleischstand. Eine alte Frau, meist ist es eine Frau, holt umständlich ihr Portemonnaie heraus, um 12,47  € zu bezahlen. Sie zählt Münze für Münze auf den Tisch. Bei 12,46  € merkt sie, dass ihr ein Cent fehlt, und sie zückt den 20,00  € Schein. Da könnte ich glatt platzen. Sie schauen nicht einmal nach hinten und entscheiden sich der Situation angepasst, sondern wie immer.
    Mich fasziniert oft an alten Menschen, wie fit sie noch sind und was sie alles unternehmen. Vor allem, wenn ich mich dann betrachte, wie kaputt ich jetzt schon nach der Arbeit bin. Meine Tante ist 85 Jahre und hat unglaublich viel Energie. Sie hat mit 60 erst ihren Führerschein gemacht und ist immer noch neugierig auf das Leben. Ich mag es, wenn alte Menschen ihren Rhythmus gefunden haben und sich durch die Wegwerfgesellschaft und den herrschenden Jugendwahn nicht beirren lassen.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich meine Handtasche mitnehmen. Damit habe ich Ausweis, Brille und Portemonnaie. Falls ich noch Zeit hätte, würde ich ein paar Familienschmuckstücke mitnehmen. Wenn ich meine gesammelten Schätze, auch Bilder, so betrachte, bräuchte ich wohl einen Container.
    Mit 86 Jahren, falls ich dann noch lebe, werde ich immer noch familiengeprägt sein, wie ich es jetzt schon bin. Und ich hoffe, dass sich der Kreis der Familie weiterhin gerne um mich schart.

Kapitel 21
     
    Ich will nicht übertreiben, aber der entscheidende Anruf erreichte mich wieder an einem Mittwochvormittag in der Praxis. Nele stellte ihn zwischen zwei Patienten zu mir durch.
    »Ein Dr. Andersen aus der Notaufnahme der Elisenklinik ist in der Leitung. Er hat eine Frage zu einem Norbert Werner. Aber ich habe ihn nicht in der Kartei gefunden. Soll ich …«
    »Nein, ist schon gut«, unterbrach ich Nele wie elektrisiert. »Stellen Sie durch.«
    Norbert war in der Notaufnahme der Psychiatrie in der Südstadt, ganz in meiner Nähe. Ich spürte heftiges Lampenfieber in mir hochsteigen und atmete noch einmal tief durch, bevor ich mich betont förmlich meldete: »Dr. Meinberg.«
    »Andersen aus der Elisenklinik. Hallo. Es handelt sich um einen Patienten namens Norbert Werner. Er hat in der Sparkassenfiliale Hermanstraße übelst randaliert. Er behauptet, man habe sich sein gesamtes Vermögen unter den Nagel gerissen. Die Mitarbeiter dort würden alle unter einer Decke stecken und ihm einreden, sein Geld wäre noch da. Er müsste sich nur seine Kontoauszüge ansehen, aber da sind nach Werners Aussage null Cent drauf. Das Ganze wäre ein riesiges Komplott, und man müsste die Sparkassenmitarbeiter überprüfen. Na ja, eben das ganze Programm. Werner hat Ihren Namen genannt, Frau Kollegin, und da dachte ich – würden Sie kurzfristig einen Termin für Herrn Werner haben, oder muss er unbedingt stationär aufgenommen werden?«
    Yes! Yes! Yes! Es kostete mich Beherrschung, um nicht laut zu jubeln. Norbert saß in der Notaufnahme der Psychiatrie und war völlig durchgeknallt. Bestens. Er hatte meinen Namen genannt. Das konnte ich im Notfall erklären. Er hatte mir in den letzten Wochen wegen Magdalene die Tür eingerannt. Der glaubte in seinem Größenwahn wirklich, ich würde ihm helfen, seine Tante einzuweisen. Genau das hatte ich jetzt mit ihm vor.
    Ich antwortete mit einem bedauernden Unterton, bemüht, die Gefahr, die von Norbert ausging, glaubhaft rüberzubringen.
    »Ich bin froh, dass Sie mich anrufen, Herr Andersen. Ich hoffe schon lange für Herrn Werner, dass es endlich mal eine Handhabe gibt, ihn
    stationär einzuweisen. Bisher war er nie fremdaggressiv gewesen, sodass man kein Psych-KG machen konnte. Die Möglichkeit haben Sie jetzt. Anders geht der nie in die Klinik. Bei mir lässt er die Termine platzen und wenn er
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