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Hab ich selbst gemacht

Hab ich selbst gemacht

Titel: Hab ich selbst gemacht
Autoren: Susanne Klingner
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könnte.
    Meine Mutter schneidet ihr ein Stück Stollen ab, und meine Oma sagt: »Der schmeckt besser als der Dresdner Stollen.«
    Dazu muss man wissen, dass meine Oma aus Sachsen kommt und dass für sie nichts, also wirklich NICHTS , über Dresdner Stollen geht, seitdem sie nicht mehr selbst backt. Sie wohnt mittlerweile in Thüringen, lässt sich aber jedes Jahr von ihrem jüngsten Sohn, der in Sachsen geblieben ist, einen kleinen Dresdner Stollen schicken. Das heißt: Meine Oma hat dem Mann und mir gerade ein Mordskompliment gemacht. Bei der Bescherung kann also nichts mehr schiefgehen, ich könnte meiner Oma jetzt einen Sack Brennholz schenken, wir würden trotzdem im Guten auseinandergehen.
    Als wäre das für dieses Weihnachten nicht schon genug Lob, kommt noch während des Nachtischs eine SMS vom Mann: »Hier sind zwei Räume voll mit Bewunderung fürdeine Geschenke. Das hättest du sehen sollen. Die werden dich übermorgen vergöttern.«
    Ich klicke die SMS weg und grinse vor mich hin.
    »Was ist los?«, fragt meine Mutter.
    »Meine Geschenke sind in Oberbayern gut angekommen«, sage ich. Und füge im Stillen hinzu: Hoffentlich wird es hier auch so sein.
    Der entscheidende Unterschied zwischen der Familie des Mannes und meiner Familie macht sich an Weihnachten besonders bemerkbar: In seiner Verwandschaft kann man Bewunderung und Erstaunen damit auslösen, eine Nähmaschine bedienen oder ein paar Stricknadeln benutzen zu können. In seiner Familie geht niemand irgendeiner Handarbeit nach. Dagegen ist meine Familie eine Selbermachfamilie, von der ich kein »Ah« oder »Oh« ernte, wenn ich etwas Selbstgenähtes zeige, sondern gute Ratschläge, wie ich dieses oder jenes noch besser machen könnte.
    Viel Zeit, mir weitere Gedanken über die eventuellen Reaktionen meiner Familie zu machen, habe ich aber nicht. Der Neffe brüllt: »Es klopft! Es klopft!«, und rennt zur Wohnungstür. Ein Nachbar hat unseren Geschenkesack vor die Tür gestellt und den Job des Weihnachtsmannes übernommen – nämlich laut an die Tür zu hämmern und sich dann aus dem Staub zu machen. Der kleine Neffe zerrt am ihn überragenden Geschenkesack und fragt enttäuscht, wieso denn der Weihnachtsmann nicht gewartet habe.
    »Viele andere Kinder und so«, erklären wir ihm mittelmäßig glaubwürdig.
    Die nächste Stunde sitzen wir auf dem Fußboden und dem Sofa und öffnen unsere Geschenke. Der Neffe findet seinen Piratenbeutel super, die Schwester probiert aus, wie die Platzdeckchen auf dem Esstisch aussehen, meine Mutter freut sich über das Brillenetui aus Filz, das sie mit einem kleinen Klett-Plättchen am Armaturenbrett ihres Auto befestigen kann.Meine Oma sagt zu dem Kissen, für das ich ihr einen Bezug gestrickt habe: »Das wäre doch nicht nötig gewesen! Ihr sollt mir doch nichts schenken.«
    Das ist ein leichter Schlag in die Magengrube, den ich ihr aber vor allem wegen ihrer Begeisterung für den Stollen sofort verzeihen kann. Denn eigentlich ist dieses Kissen daran schuld, dass ich auch noch auf der Zugfahrt hierher ziemlich gestresst war. Erst am Abend vor meiner Abreise hatte meine Oma beschlossen, mit uns anstatt mit meinem Onkel zu feiern. Bloß hatte ich noch gar kein Geschenk für sie. Aber dafür ein kleines Kissen und eine Menge dicker weißer Wolle im Schrank. Also nähte ich noch schnell vor dem Schlafengehen einen Bezug aus weißer Baumwolle für das Kissen und steckte Wolle, Stricknadeln, Schere, Nähgarn und – nadel in mein Reisegepäck. Im Zug strickte ich dann fast die gesamten sechs Stunden durch. Ich strickte zehn Maschen links und zehn Maschen rechts und wechselte nach zehn Reihen. So entsteht optisch ein Schachbrettmuster mit Kästchen aus linken und rechten Maschen. Erst kurz nach Leipzig war ich endlich fertig und begann, das gestrickte Quadrat auf eine Seite des Baumwollbezugs aufzunähen. Als ich in Berlin ankam, hatte ich ein weiteres Weihnachtsgeschenk im Gepäck. Zu dem meine Oma jetzt also sagt, das sei nicht nötig gewesen. Aber gut, so was sagen Omas vermutlich sowieso immer. Wenn man ihnen etwas kauft, hätte man sich das Geld ihrer Meinung nach sparen sollen, wenn man etwas bastelt, hätte man sich »die Mühe nicht machen müssen«. Das gehört zu einer echten Oma wohl dazu.
    Ich denke schnell wieder an das Stollen-Kompliment und konzentriere mich darauf, dass alle anderen Geschenke gut angekommen sind. Glück gehabt. Keine enttäuschten Gesichter bei der Familie. Keine schamglühenden Wangen bei
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