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Gute Leute: Roman (German Edition)

Gute Leute: Roman (German Edition)

Titel: Gute Leute: Roman (German Edition)
Autoren: Nir Baram
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wirklich sich zu verstellen, mit dir ist alles zum Greifen nahe wie ein Stück Brot.«
    Was immerhin eine Dankesbezeugung gewesen war.
    An jenem Abend im Inflationsjahr aber erwiderte Hermann seinen Gruß nicht. Sein Haufen trank ausgelassen, schwadronierte lautstark, und am Ende kam der ältliche Kellner auf wackligen Beinen an ihren Tisch und reichte ihnen die Rechnung. Der Alte verstand genau, zu welcher Aufgabe ihn der Inhaber losgeschickt hatte, ein Feigling, der mit der geladenen Pistole in der Hand hinter seinem Tresen geblieben war.
    »Fünf Millionen und fünfhundert Mark?«, brüllte einer von ihnen. »Hättet ihr nicht wenigstens aufrunden können, ihr Hunde?«
    Die wilde Rotte sprang wie ein Mann auf und johlte, während zwei von ihnen die Rechnung verbrannten und den Kellner zwangen, das brennende Stück Papier in der Hand zu halten. Der Kellner brüllte vor Schmerz, an seinem Hals traten die Adern hervor. Schließlich versetzte Hermann ihm einen Stoß, und er ging zu Boden.
    »Nicht satisfaktionsfähig«, rief Hermann.
    Thomas verstand, dass Hermann sich hier mit einem Mal selbst in Gefahr gebracht hatte. Er hatte ohne erkennbaren Grund Mitleid gezeigt, weshalb er jetzt wohl gezwungen sein würde, einen neuen Akt von Grausamkeit vor seinen Kameraden zur Aufführung zu bringen.
    Tatsächlich stieg Hermann auf einen der Stühle, schwang seinen Stock und brüllte: »Seid ihr verrückt geworden? Auch den vorherigen Preis hätten wir nicht zahlen können, und jetzt wollt ihr noch mehr? Wie kann es sein, dass in den zwei Stunden, die wir hier sitzen, der Preis um vierzig Prozent in die Höhe geschnellt ist? Kann man in dieser verfluchten Stadt schon kein Bier mehr trinken?« Und dann schleuderte er seinen Stock in das Schaufenster des Cafés.
    Eine pathetische Vorstellung. Seine Kameraden beäugten ihn spöttisch.
    »Ist das nicht dieser Schulfreund von dir?«, flüsterte sein Vater.
    »Ja, aber schon seit Jahren gebärdet er sich, als hätte ich die Krätze am Leib«, erwiderte Thomas und konnte seine Augen nicht von Hermann lassen.
    Willst du ein Rabauke sein, musst du dich an die Regeln halten. Schwerfällig stieg Hermann von seinem Stuhl und sah sich um. Seine Kameraden standen in Habtachtstellung, als lauschten sie einer Rede bei einer Kundgebung, ihre Hemden ein wenig zerknittert, die Schirmmützen tief in die Stirn geschoben und die Daumen hinter der Schnalle ihres Koppels eingehakt. Hermann drehte sich um, hob mit beiden Händen einen Stuhl in die Höhe und wandte seinen Blick wieder dem Gastraum des Cafés zu, wobei Thomas meinte, einen Anflug von Bedauern in seinen Augen zu erkennen. Dann spannte er seinen Körper an und schleuderte den Stuhl mit Wucht in die Schaufensterscheibe. Die Scheibe ging zu Bruch, und Glassplitter regneten herab auf zwei alte Damen, die bei einer abendlichen Tasse Kaffee saßen. Hermanns Kameraden applaudierten und klopften ihm auf die Schulter, während die übrigen Gäste des Cafés ihn anstarrten. Einige von ihnen sympathisierten wahrscheinlich mit seiner Tat oder identifizierten sich zumindest mit der Wut und Empörung, die ihn getrieben hatten. Thomas stellte bestürzt fest, dass auch sein Vater befriedigt und von neuen Lebensgeistern erfüllt schien. Er hatte begonnen, mit einigen Leuten am Nachbartisch zu plaudern.
    »Sie haben mir einen Wochenlohn ausbezahlt«, erzählte er gerade. »Daraufhin habe ich sie gebeten, zu einem Tageslohn überzugehen, habe ihnen gesagt, dass das Geld, das ich am Ende der Woche bekomme, am Montag schon nur noch einen Bruchteil wert ist. Der Personalchef hat mich weggeschickt, ich solle mir meinen Anstellungsvertrag noch einmal durchlesen. ›Verehrter Herr Heiselberg‹, hat er gebrüllt. ›Sehen Sie hier etwa einen Passus über einen Tageslohn? Wie kann es sein, dass die Arbeiter immer nur Forderungen an das Werk haben? Sind Sie etwa Kommunist? Das deutsche Volk liegt am Boden, und alle reißen ihm die Organe heraus. Unsere Wirtschaft tanzt in den Abgrund, und alle vergnügen sich und lachen.‹«
    »Frechheit«, rief jemand.
    »Ich hätte ihm eine Faust in die Fresse gegeben«, zischte ein junger Kerl in braunem Hemd, offenbar einer aus Hermanns Gefolgschaft.
    »Am nächsten Tag haben sie mich entlassen«, klagte sein Vater in niedergeschlagenem, zugleich aber auch streitlustigem Tonfall, der dazu angetan war, die kleine Zuhörerschaft noch weiter aufzuwiegeln. Den Bemühungen seines Sohnes, der die ganze Zeit über den Blick
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