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Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde

Titel: Guido Guerrieri 04 - In ihrer dunkelsten Stunde
Autoren: Gianrico Carofiglio
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Zigarette, Pipipause, eine halbe Stunde prasselnder Platzregen mitten auf dem Apennin –, aber ich erinnere mich noch gut an das Gefühl von Leichtigkeit und völliger Verantwortungslosigkeit. Ich hatte ein wenig gelernt, aber nicht wirklich in die Angelegenheit investiert wie meine Freunde. Ich hatte nichts zu verlieren, und falls es nicht klappte, würde mir keiner einen Vorwurf machen können.
    »Wozu kommst du eigentlich überhaupt mit, Guerrieri?«, fragte mich Andrea noch einmal nach einer Weile, nachdem er das Radio leiser gedreht hatte. Wir hörten eine Cassette, die ich extra für die Reise aufgenommen hatte; darauf waren Have you ever seen the rain, I don’t wanna talk about it, Love letters in the sand, Like a rolling stone, Time passages und ich glaube, gerade als Andrea das sagte, spielte Piano Man von Billy Joel.
    »Ich weiß auch nicht. Ein Versuch, eine Wette, was weiß ich. Klar, selbst wenn ich Glück haben sollte, würde ich das Richteramt nicht als eine Mission ansehen. In mir brennt nicht das heilige Feuer wie in euch.«
    Das war genau die Art von Gerede, die Andrea auf die Palme brachte, weil es ins Schwarze traf.
    »Was soll der Scheiß? Was heißt hier heiliges Feuer? Was hat das mit einer Mission zu tun? Ich will diese Stelle, ich habe Lust dazu, mir wird das gefallen – ich meine, mir würde das gefallen«, korrigierte Andrea sich abergläubisch, »und ich finde, dass es etwas Sinnvolles ist.«
    »Ich auch. Ich glaube, dass man die Gesellschaft von unten her verändern muss. Ich glaube, dass man als Richter – wenn man ein guter Richter ist, natürlich – dazu beitragen kann, die Welt positiv zu verändern. Sie von der Korruption, der Kriminalität, allem Kranken zu befreien«, fügte Sergio hinzu.
    An seine Worte erinnere ich mich am besten, und ich habe dabei ein zwiespältiges Gefühl, irgendwo zwischen Rührung und Bestürzung. Darüber, wie diese naiven Vorsätze später von den Abgründen des Lebens verschluckt wurden.
    Ich wollte noch etwas erwidern, aber dann fand ich, dass ich eigentlich kein Recht dazu hatte, denn ich war ja so etwas wie ein blinder Passagier inmitten ihrer Träume. Also zuckte ich nur die Achseln und drehte das Radio wieder lauter. In dem Moment verhallte die Stimme von Billy Joel, und die Gitarre von Creedence Clearwater Revival erklang : Have you ever seen the rain . Draußen hatte sich soeben ein Gewitter gelegt.
    Das Examen bestand aus drei schriftlichen Prüfungen: Zivilrecht, Strafrecht und Verwaltungsrecht. Die Reihenfolge wurde jedes Mal neu ausgelost.
    Diesmal ging es mit Verwaltungsrecht los, einem Fach, in dem ich einfach gar nichts wusste, und aus diesem Grund gab ich nach drei Stunden auf und begrub meine heimlichen und unsinnigen Hoffnungen. Die Schiebetür, die mich von der Welt der Erwachsenen trennte, öffnete sich in jenen Tagen noch nicht für mich, ich blieb noch eine Weile im Wartezimmer. Dort sollte ich noch eine ganze Weile bleiben.
    In den Jahren, die danach kamen und gingen, fragte ich mich des Öfteren, wie mein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn ich durch irgendeinen unerwarteten Glücksfall jenes Examen doch bestanden hätte.
    Ich wäre von Bari weggegangen, wäre ein anderer Mensch geworden, und vielleicht wäre ich nie zurückgekommen. Wie Andrea Colaianni, der das Examen zwar bestand und weit weg von zu Hause Staatsanwalt wurde, aber trotzdem irgendwann einsehen musste, dass er die Welt allein nicht würde ändern können.
    Sergio Carofiglio schaffte es nicht. Ihm lag noch mehr daran, Staatsanwalt zu werden als Colaianni – falls das möglich war –, aber er schaffte die schriftliche Prüfung nicht. Er versuchte es noch einmal und dann noch ein drittes Mal, aber mehr als drei Versuche erlaubte das Gesetz nicht. Als ich hörte, dass er es auch das dritte Mal nicht geschafft hatte, hatten wir uns schon aus den Augen verloren, aber ich konnte die Niederlage und die Schmach nachfühlen, die das für ihn bedeutet haben musste. Einige Zeit später lernte er die Tochter eines Industriellen aus dem Veneto kennen, heiratete und zog in die Nähe von Rovigo, wo er in der Firma seines Schwiegervaters arbeitete und seine Bitterkeit und seine Träume im Nebel ertränkte. Vielleicht ist das aber auch nur eine Vorstellung aus meiner Fantasie, und in Wirklichkeit ist er glücklich und wohlhabend und dankt dem Himmel, dass er kein Staatsanwalt geworden ist.
    Ich blieb, nachdem ich die Prüfung abgebrochen hatte, in Rom. Das Zimmer in der
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