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Gruenkohl und Curry

Gruenkohl und Curry

Titel: Gruenkohl und Curry
Autoren: Hasnain Kazim
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Welt gekommen.
    Offensichtlich hatte er verdrängt, dass der größte Teil der indischen Bevölkerung immer noch keinen Zugang zu fließendem Wasser und erst recht nicht zu Toiletten hat. Wenn es mal in der Nachbarschaft ein Gemeinschaftsklo gibt, ist den meisten die Rupie zu viel, die sie für die Nutzung zahlen müssen. Bei einer sechs-, sieben- oder achtköpfigen Familie, in Indien keine Seltenheit, käme da eine Summe zusammen, die so manche Haushaltskasse überfordern würde.
    »Wenn du frühmorgens oder spätabends mit dem Zug fährst, siehst du immer Menschen nahe den Gleisen hocken«, erklärte ich. Das hatte ich schon bei früheren Reisen durch Indien registriert. »Erst kommen die Männer, weil die meistens als Erste zur Arbeit müssen, und danach die Frauen. Wenn es genügend freie Fläche gibt, sind bestimmte Bereiche für Männer, andere für Frauen. Dann können sie auch gleichzeitig raus.«
    Mein Vater war sprachlos. Für ihn, der einer wohlhabenden Familie entstammte, war es immer selbstverständlich gewesen, eine vernünftige Toilette im Haus oder zumindest in der Nähe der Wohnung zu haben. Es dauerte einige Minuten, bis er wieder etwas sagte. »Komisch, man sieht in letzter Zeit immer nur Bilder vom wirtschaftlichen Boom in Indien. Warum kommen so selten Berichte über die normalen Menschen, die hier leben?«
    Kaum hatten wir die letzten Randbezirke von Neu-Delhi durchfahren, sahen wir das ländliche Indien: grüne, gelbe, braune Felder, über die Männer ihre Ochsen Pflüge ziehen ließen und auf denen Frauen in roten, orangefarbenen, gelben, grünen, violetten Saris mit bloßen Händen in der Erde gruben oder das Angebaute ernteten. Unzählige Dörfer, dazwischen Stopps in Ghaziabad, Aligarh, Etawah und Kanpur – Großstädte, deren Namen in Deutschland kaum jemand kennt. Und permanent kam ein Steward vorbei und teilte Tee und abgepackten Mangosaft aus oder reichte ein Tablett mit Essen.
    Vom Service der indischen Bahn waren wir begeistert. Beim Ticketkauf hatten wir uns über die Wartezeit von fast einer Stunde noch geärgert, es gab jeweils eine Warteschlange für Männer und für Frauen, und überhaupt stellte sich der Kauf mit lauter Formularen so kompliziert dar, als wären wir gerade dabei, Anteile an dem Staatsunternehmen zu erwerben. Jetzt saßen wir in unserem kühlen Abteil, tranken heißen Tee mit Milch, probierten von dem Curry und freuten uns des Lebens.
    Mein Vater genoss die Aussicht, das Reisen im Zug durch Indien war neu für ihn. Während seiner Karriere als Kapitän war er mehrmals in Indien gewesen, Bombay, Madras, Cochin, immer in Küstenstädten. Das Landesinnere hatte er seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen. Und obwohl er sich die Strecke zwischen Neu-Delhi und Lucknow ungefähr so vorgestellt hatte, vielleicht auch Bilder von Bollywood-Spielfilmen oder Fernsehreportagen im Kopf hatte, staunte er über das, was er sah. Die indische Wirklichkeit mit den zwar armen, aber trotzdem fröhlichen Menschen und mit all ihren Farben tat ihre Wirkung.

    Zwei junge Männer – Verwandte, wie sich schnell herausstellte – standen am Bahnhof und kamen auf uns zu, nachdem die Menschenmenge sich aufgelöst hatte. Sie wirkten unsicher.
    »
Salam aleikum
, seid ihr aus Deutschland?«
    Wir lachten, reichten ihnen die Hände und klopften ihnen auf die Schultern. »
Walekum salam

    Friede sei mit euch. – Auch mit euch sei Friede. Eine schöne Begrüßung.
    Ein seltsames Gefühl: Diese zwei, Aiman und Mohammed, waren Teil unserer Verwandtschaft. Wir hatten noch nie ihre Namen gehört, noch nie Fotos von ihnen gesehen, wir wussten nichts über sie. Umgekehrt war es genauso: Erst vor wenigen Tagen hatten sie erfahren, dass sie überhaupt Verwandte in Europa haben.
    »Herzlich willkommen in Lucknow«, sagten sie. Wir waren erleichtert: Glücklicherweise war wirklich jemand gekommen, um uns abzuholen. Wir hatten schon damit gerechnet, dass wir uns am Ende ein Hotel suchen müssten, weil unsere telefonischen Besuchsankündigungen womöglich nicht ernst genommen worden waren.
    Vor dem Bahnhof wartete der Fahrer der Familie auf uns, Mohammed und Aiman hievten unser Gepäck in den Kofferraum. Mein Vater blickte zurück auf den Bahnhof mit dem Namen
Char Bagh
, »vier Gärten«: »An diesen Namen kann ich mich noch erinnern. Aber ich hatte den Bahnhof ganz anders im Kopf.«
    Die Stadt hatte sich verändert, war größer, chaotischer geworden. Eine Stunde lang fuhren wir durch dichtes Autogedränge,
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