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Gruenkohl und Curry

Gruenkohl und Curry

Titel: Gruenkohl und Curry
Autoren: Hasnain Kazim
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gewaltig.
    Wir kamen mit dreizehn Stunden Verspätung in Neu-Delhi an. Der Pilot hatte kurz vor der Landung entschieden, nach Bombay zu fliegen – über Neu-Delhi lagen Nebel und Smog, die Sicht war zu schlecht und die Maschine, teilte er uns über Bordfunk mit, sei nicht ausgestattet, um unter solchen Bedingungen landen zu können. In Bombay durften wir das Flugzeug nicht verlassen, dort hockten wir stundenlang in der Maschine, deren Innenraum sich in der Sonne allmählich in eine Backröhre verwandelte. Manche Passagiere, die ohnehin über Neu-Delhi nach Bombay gebucht waren, wollten nun, da sie ihr Ziel unverhofft direkt erreicht hatten, aussteigen. »Das lassen die Bestimmungen nicht zu«, teilte ihnen ein Steward mit, was zu Tumulten führte. Nach einer ewigen Debatte mit den Verantwortlichen am Flughafen durften die Bombay-Reisenden das Flugzeug dann doch verlassen.
    »Was für ein chaotisches Land«, sagte mein Vater genervt. »Nichts klappt hier! Alles völlig unorganisiert!«
    Ich musste lachen. Mein Vater, gebürtiger Inder, aufgewachsen in Pakistan, denkt sehr deutsch.

    In Neu-Delhi beschlossen wir, uns zwei Tage von den Strapazen des Fluges zu erholen. Wir hatten uns bei den Verwandten in Lucknow schon von Deutschland aus telefonisch angekündigt, allerdings ohne einen genauen Termin zu nennen oder zu sagen, wie lange wir zu bleiben beabsichtigten. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil wir gegenüber unseren Gastgebern so wenig konkret gewesen waren.
    »Mach dir keine Sorgen«, sagte mein Vater. »Das wird schon alles in Ordnung sein.«
    Er erinnerte mich daran, dass die Besuchskultur in Südasien sich von der in Deutschland unterscheidet, und zwar grundlegend. Mir fiel wieder die Geschichte ein, als mein inzwischen verstorbener Onkel in Karatschi Besuch von einem alten Schulfreund und dessen Tochter erhielt. Die beiden waren einfach vorbeigekommen – und sechs Wochen geblieben. Am meisten wunderte mich, dass sich niemand darüber aufregte. Zwei Leute mehr fielen in dem großfamiliären Alltag nicht weiter auf und mein Onkel freute sich, mit seinem Freund ausgiebig über ihre gemeinsame Jugend reden zu können.
    »In unserer Kultur kann man nicht nur auf eine Tasse Tee vorbeikommen und bestenfalls noch zum Abendessen bleiben. Das geht nur bei sehr formellen Besuchen«, meinte mein Onkel damals. »Eine Übernachtung gehört bei einem vernünftigen Besuch schon dazu. Mindestens eine.«
    Mein Vater rief von Neu-Delhi aus noch einmal in Lucknow an. »Wir kommen übermorgen«, verkündete er und wusste selbst nicht, wen er am anderen Ende der Telefonleitung hatte. Jemand werde uns am Bahnhof in Empfang nehmen, hieß es.
    »Und woran erkennen wir unsere Abholer? Beziehungsweise woran erkennen die uns?«
    Mein Vater zuckte mit den Schultern. »Ach, das klappt schon.«

    Es gibt drei Möglichkeiten, die gut fünfhundert Kilometer von Neu-Delhi nach Lucknow zurückzulegen: per Flugzeug in einer knappen Stunde, per Bus, was je nach Verkehr und Wetter zwischen acht und zwölf Stunden dauert, oder mit dem Zug, der schönsten aller Arten, in Indien zu reisen. Die Zugfahrt dauert etwa sechs Stunden und führt am Ganges entlang, leider nicht so dicht, dass man den Fluss sehen könnte. Der Ausblick lohnt sich trotzdem.
    Wir genossen die Fahrt im
Shatabdi Express
, über den jeder Inder sagt, er sei der beste Zug des Landes. Wir hatten »AC Chair Class« gebucht, Plätze in einem klimatisierten Abteil. Nach Lucknow fahren auch einfachere Züge – bis hin zu solchen, in denen man sich einfach auf den Holzboden zwischen Hunderte von anderen Reisenden quetscht. Aber das wollten wir uns nicht antun.
    Gegen sechs Uhr morgens startete der Zug in Neu-Delhi, fuhr durch Büroviertel mit gläsernen Hochhäusern und durch Slums. Wir verließen eine Stadt, in der mindestens fünfzehn Millionen Menschen ihr Zuhause haben. Je ärmer die Gegend, desto mehr Menschen halten sich um diese Uhrzeit nahe der Gleise auf – hockend.
    Tausende von Menschen waren gerade dabei, auf freier Fläche ihre Morgentoilette zu verrichten. Die verwilderten Flächen neben den Gleisen waren weit genug von ihren Häusern, brüchigen Hütten aus Lehm, Stroh oder Wellblech, entfernt und daher geeignet. Dass alle Bahnreisenden ihnen dabei zugucken konnten, schien sie nicht weiter zu stören.
    Mein Vater war schockiert. »Mein Güte«, sagte er. »Wie kann das sein?«
    Ich wunderte mich, wie fremd ihm das alles vorkam.
    Er war doch in Indien zur
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