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Gruenkohl und Curry

Gruenkohl und Curry

Titel: Gruenkohl und Curry
Autoren: Hasnain Kazim
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Jahresfahrkarte ein Rad zu kaufen. Ich war sofort dafür – ein Fahrrad war ein wertvollerer Besitz als eine Busfahrkarte, quasi für die Ewigkeit statt nur für ein Jahr, dabei vergleichbar im Preis.
    Im Briefschlitz neben der hölzernen Haustür hing ein grauer Umschlag, wie ihn nur Behörden verwenden.
    Zu Hause war niemand. Meine Schwester hatte noch Unterricht, meine Mutter war im Büro, wo sie in der Buchhaltung einer Baustoffhandlung als bald Vierzigjährige eine Ausbildung zur Kauffrau absolvierte, und mein Vater, wie so oft, auf See. Er fuhr zu der Zeit als Kapitän auf großer Fahrt und kannte fast jedes Land der Erde – zumindest jedes, das eine Küste hat.
    Ich nahm also den Umschlag, der vom Landkreis Stade an meine Eltern adressiert war, und warf ihn auf die dunkle, mit Schnitzereien verzierte Holztruhe im Flur. Wie immer hatte meine Mutter das Mittagessen schon am Abend zuvor vorbereitet, ich wärmte es auf und aß erst einmal. Irgendetwas sagte mir: Öffne den Brief, das ist heute eine Ausnahme, etwas ganz Besonderes, das keinen Aufschub duldet, etwas, was auch dich und dein Leben betrifft! Nun mach ihn schon auf, schau rein und ruf sofort deine Mutter an, wenn es ist, was du denkst. Wenn nicht, hast du noch genug Zeit bis zum Abend, dir eine gute Entschuldigung einfallen zu lassen, warum du einen Brief geöffnet hast, der nicht an dich gerichtet ist.
    Der Brieföffner, ein kleines Schwert, das mein Vater von einer Reise nach Dubai mitgebracht hatte, glitt mit einem Rutsch durch das Papier. Jetzt war der Umschlag geöffnet – zu spät für ein Zurück.
    Der Empfänger war handschriftlich in ordentlicher Blockschrift in das Adressfeld eingetragen worden:
Eheleute Nasreen und Hasan KAZIM
. Der Absender stand unübersehbar in dicken Lettern im Briefkopf:
Landkreis Stade, der Oberkreisdirektor
, dazwischen das Stader Wappen, ein Leuchtturm, ein Schlüssel und das Pferd, das auch Niedersachsen im Wappen führt. Ich zog den auf den 9. November 1990 datierten Brief – exakt ein Jahr nach dem Mauerfall und gut einen Monat nach der Wiedervereinigung Deutschlands – vorsichtig aus dem Umschlag und las ihn aufmerksam durch.
    Jetzt war es also entschieden. Und nun?
    Ich hatte mir diesen Moment immer ganz anders vorgestellt. Dramatischer. Spektakulärer. Nicht so banal. Jetzt kam er mir so alltäglich vor. Dabei bedeutete dieser Brief etwas, worauf wir viele Jahre lang gehofft hatten: das Ende eines langen, sorgenvollen Weges.

Spielen am Fuße des Himalaja

    Zum fünfundsechzigsten Geburtstag meines Vaters unternahmen wir beide eine Reise in seine Vergangenheit. Er hatte gelegentlich davon gesprochen, dass er gerne mal wieder nach Lakhimpur reisen würde, in die Stadt – »Ich glaube, es war eher ein Dorf« – im Nordosten Indiens, in der er geboren wurde. Öfter war der Name Lucknow gefallen, eine Stadt gut hundert Kilometer südlich, wohin seine Familie kurz nach seiner Geburt gezogen war und wo er die ersten sechs Jahre seiner unbeschwerten Kindheit verbracht hatte. Sechs Jahrzehnte waren inzwischen vergangen, Zeit, in der mein Vater diese Orte nicht mehr gesehen hatte.
    Mir war klar geworden: Um den ungewöhnlichen Lebensweg meiner Eltern nachzeichnen zu können, würde es nicht ausreichen, nur mit ihnen zu reden, in Akten zu wühlen und mit ein paar Freunden in Deutschland zu sprechen. Meine Mutter und mein Vater hatten inzwischen zwar deutlich mehr als die Hälfte ihres Lebens in Deutschland verbracht, aber man konnte nicht ignorieren, dass sie woanders geprägt worden waren.
    Lass uns nach Indien reisen, schlug ich meinem Vater also vor, lass uns die Verwandten besuchen, all diejenigen, die nach der Gründung des Staates Pakistan 1947 in Indien geblieben sind und nicht – wie deine Familie – ihr Glück in Pakistan gesucht haben.
    Mein Vater willigte sofort ein und meinte, als Rentner könne er jederzeit fliegen. Wir einigten uns auf März 2007 – im Frühjahr, nach der Hochzeitssaison, würde es wieder günstige Tickets geben. In Südasien wird am liebsten im Winter geheiratet, in den anderen Jahreszeiten ist es einfach unerträglich heiß. Tausende von Indern aus aller Welt fliegen dann in die Heimat und treiben damit die Flugpreise in enorme Höhen.
    Und so saßen mein Vater und ich am ersten Märztag in einer voll besetzten alten Air-India-Maschine nach Neu-Delhi. Ich war sehr gespannt – auf die unbekannten Verwandten, auf die Kindheitsorte meines Vaters, aber vor allem auf meinen Vater
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