Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian
Autoren: Frritz Mühlenweg
Vom Netzwerk:
denn die Sonne geht auf und unter,
     und wer ein bisschen Übung hat, sieht, wo die Sonne steht, und weiß dann, wie spät es ist.
    »Wo steht die Kanone, mit der man Mittag schießt?«, fragte Christian, als Großer-Tiger mit seinem Drachen kam.
    »Ich weiß es nicht, und es ist mir auch gleich«, sagte Großer-Tiger. »Hast du mit meinem Lehrer gesprochen?«
    »Ich habe ihm alles gesagt, und er bedauert dich.«
    »Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich war er nur höflich gegen dich, weil dein Vater ein Arzt ist, der mehr kann, als nur
     sagen: Streck die Zunge heraus.«
    »So ist es nicht, Großer-Tiger. Es ist anders. Dein Lehrer blickte mich freundlich an, und er seufzte sogar. ›Großer-Tiger‹,
     sagte er, ›ist ein Stück Mensch, das man bedauern muss.‹«
    »Verstehst du das nicht?«, rief Großer-Tiger. »Es heißt, dass er mich morgen prügeln wird.«
    »Ach so«, sagte Christian, »jetzt verstehe ich.«
    »Da gibt es keine Hilfe«, sagte Großer-Tiger gleichmütig. »Jetzt wollen wir zum Bahnhof gehen.«
    Christian nahm die Rolle mit der dünnen Seidenschnur, und Großer-Tiger trug den gelben Papierdrachen, den ihm sein Vater zum
     Fest »Der Drache erhebt sein Haupt« geschenkt hatte. Sie gingen auf der Stadtmauer entlang, die um diese Tageszeit verlassen
     in der Sonne lag.
    Von hier aus sah man über die Dächer der ganzen Stadt Peking. Die großen mehrstöckigen Gebäude und der Kaiserpalast erhoben
     sich über dem Grau der niederen Straßenzüge. Die Ziegel der Kaiserstadt leuchteten gelb; Wimpel und bunte Fähnchen flatterten
     über den Geschäftsstraßen, und in den Gärten blühtendie Aprikosenbäume. Beim »Guten-Beispiel-Turm« verließen Großer-Tiger und Christian die Stadtmauer. Jetzt mussten sie aufpassen.
     In dem Gewimmel der Pferdefuhrwerke, der Fußgänger und der Rikschas konnte man leicht den Weg verlieren. Zudem gab es Automobile
     mit Soldaten, die große Staubwolken machten. Aber Großer-Tiger kannte sich aus. Er wusste Seitengassen, die ruhig waren, und
     schon nach einer halben Stunde kam die Nordmauer der Kaiserstadt in Sicht.
    »Es ist nicht mehr weit«, sagte Großer-Tiger.
    Auf der Straße marschierten Soldaten in grauen Uniformen, die den gleichen Weg hatten. Sie lachten vergnügt, und einer sagte
     zu Christian:
    »Kleiner fremder Teufel, willst du auch in den Krieg?«
    »Ich bin kein fremder Teufel«, sagte Christian, »ich bin in Peking geboren, und ich kann so gut chinesisch wie du. Aber in
     den Krieg will ich nicht.«
    »Ei ja, kleiner Bruder« erwiderte der Soldat, »sei nur nicht gleich böse. Wo geht ihr hin?«
    »Wir gehen zum Bahnhof Schi-Schi-Men«, sagte Großer-Tiger. »Dort ist ein Platz, wo ein guter Wind weht. Dort steigen die Drachen
     sehr hoch.«
    »Ich will sehen, wie dein Drache fliegt«, sagte der Soldat; und ein anderer rief: »Halt einmal mein Gewehr; es gibt keinen
     Drachen, von dem ich nicht gleich wüsste, ob er gut steigt oder nicht.«
    Großer-Tiger gab ihm den Drachen und trug derweil das Gewehr. Bald hatten viele Soldaten den Drachen in der Hand gehabt, und
     alle behandelten ihn ehrerbietig, wie sich das gehört, und sie sagten, dass er sehr gut gebaut sei.
    Am Stadttor Schi-Schi-Men gab es einen Aufenthalt. Viele Leute warteten, und die meisten kehrten um und gingen in die Stadt
     zurück, denn es hieß, dass nur Soldaten das Tor passieren dürften. Die Soldaten müssten in den Krieg ziehen und darum brauchten
     sie den Bahnhof für sich allein.
    »Haltet euch an uns«, sagte der Soldat, dem Großer-Tiger das Gewehr getragen hatte, »wir bringen euch durch.«
    »Ehrfurchtsvollen Dank«, erwiderte Großer-Tiger, und »EhrfurchtsvollenDank«, sagte auch Christian. Aber die Wache am Tor passte auf.
    »Halt!«, rief einer, dem man ansah, dass er mindestens ein Sergeant war. »Wo wollt ihr hin, ihr Galgenstricke? Marsch, zurück!«
    »Diese sind keine Galgenstricke«, sprach der Soldat, »es sind meine jüngeren Brüder.«
    Der Sergeant deutete auf den blonden Christian: »Ist das auch dein jüngerer Bruder?«, fragte er.
    »Ja«, erwiderte der Soldat, »wir sind eine große Familie.«
    Damit ging er weiter, und weil der Sergeant viel zu tun hatte, um auf die erwachsenen Leute aufzupassen, schlüpften Christian
     und Großer-Tiger geschwind durch das Tor.
    Da lag nun der Bahnhof Schi-Schi-Men. Sein Blechdach glänzte in der Sonne, aber er war noch weit weg, und der große Platz,
     auf dem es sonst viele Jungen und auch große Leute gab, die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher