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Großer-Tiger und Christian

Großer-Tiger und Christian

Titel: Großer-Tiger und Christian
Autoren: Frritz Mühlenweg
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Stadtmauer traf,
     »sie sollte lieber auf meine Schwester aufpassen; die ist noch klein.«
    Hu-Ta, der Große-Tiger, nickte.
    »Du musst öfter Sie zu ihr sagen, oder: Ehrwürdiger Wagen.«
    »Hilft das was?«
    »Ja«, sagte Großer-Tiger, »du wirst sehen, das hilft.«
    Christian setzte sich auf die Steinstufe, die von der hohen Stadtmauer zu dem noch höher gelegenen Turm führte, wo die Instrumente
     aus schwarzer schwerer Bronze standen. Sie gehörten zur alten Sternwarte, und ein wenig mit Grünspan überzogen waren sie auch.
    Großer-Tiger setzte sich neben Christian. Er war gleich alt, nur war er etwas kleiner, und er hatte schwarze, glänzende Haare.
     Während der Neujahrstage hatte er einen grauen Rock getragen, der ihm bis auf die Füße gegangen war, und Christian hatte ihn
     kaum erkannt, so feierlich hatte Großer-Tiger ausgesehen. Zum Glück war das Neujahrsfest nach drei Wochen vorüber, und jetzt
     war es März. Die Sonne schien angenehm warm. Großer-Tiger trug gewöhnliche Hosen aus wattiertem Stoff und dazu einen kurzen
     Rock mit langen Ärmeln.
    »Hast du eine Schnur?«, fragte Christian.
    »Ich habe eine Schnur.«
    »Wie lang ist sie?«
    »Vierhundert Schritte.«
    »Dann können wir den Drachen steigen lassen«, sagte Christian. »Morgen ist Mittwoch, da habe ich nachmittags keine Schule.«
    »Hier geht es aber nicht«, sagte Großer-Tiger, »der Wind kommt jetzt immer vom Süden. Wir müssen es am Ha-Ta-Men-Tor versuchen.«
    »Dort geht es auch nicht«, sagte Christian. »Auf der Mauer beim Ha-Ta-Men-Tor führt die Ama meine Schwester im Wagen spazieren.«
    »Entschuldige«, sagte Großer-Tiger, »ich dachte nicht daran. Am besten gehen wir zum Schi-Schi-Men-Bahnhof. Dort gibt es einen
     großen Platz.«
    »Ich war noch nie dort. Ist es sehr weit?«
    »Wir gehen gleich nach Mittag fort«, schlug Großer-Tiger vor. »Am Abend sind wir dann zurück.«
    »Ich will sehen, was sich machen lässt.«
    »Nein, du musst Ja sagen!«
    »Ja!«
    »Es ist gut«, sagte Großer-Tiger und stand auf.
    »Warum musste ich Ja sagen?«, fragte Christian.
    Großer-Tiger zögerte.
    »Du musst dein Herz weit machen«, sagte er und blickte Christian an, wie er immer tat, wenn er einen Freundschaftsdienst von
     ihm brauchte. Das dauerte eine gute Weile.
    Jetzt wird er mich mit meinem Vornamen anreden, dachte Christian, und er freute sich im Voraus, weil Chinesenjungen kein »r«
     aussprechen können, auch wenn sie sich Mühe geben. Großer-Tiger gab sich seit langem keine Mühe mehr. Er sagte einfach Kwi-Schan,
     weil es so ähnlich klang wie Christian, und weil es ein prächtiger chinesischer Name war, der so viel bedeutete wie Kompass-Berg.
    »Kwi-Schan«, sprach Großer-Tiger, »du hast morgen Nachmittag keine Schule, aber ich habe Schule. Darum musst du zu meinem
     Lehrer gehen und sprechen: Ehrwürdiger alter Onkel! Hu-Ta, der Große-Tiger, wohnt zwei Häuser neben mir. Er kann nicht in
     die Schule kommen, und darum komme ich, sein ärmlicher Freund. Großer-Tiger bedauert, dass sein Körper sich heute nicht wohl
     befindet. Er wird aber einen Schluck Tee trinken, und morgen wird er wieder zur Schule kommen. Hast du alles behalten?«
    »Deine Rede ist lang«, sagte Christian, »aber ich habe alles behalten. Auf Wiedersehen!«
    »Hier auf der Mauer, wenn es Mittag schießt.«
    »Ich werde da sein«, sagte Christian.
    Dann ging er auf der Stadtmauer entlang bis zum Fuchsturm, wo eine Rampe in Spitzkehren zur Straße hinunterführte. Von da
     musste er den gleichen Weg wieder zurückgehen, aber nicht oben auf der Mauer, sondern unten, wo keine Sonne schien und wo
     es kalt war.
    Als Christian daheim anlangte, sah er Großer-Tiger noch immer auf der obersten Stufe der Sternwarte sitzen.
    Es ist ein Glück, dass meine Eltern bis zum Sonntag in Tientsin bleiben, dachte Christian und klopfte ans Tor, auf dem ein
     Messingschildchen in der Sonne glänzte:
     
    Dr. med. H.   Schneider
    Praktischer Arzt
     
    Der Torhüter öffnete ihm. »Beeile dich«, sagte er leise, »die Ama wartet seit einer Stunde auf dich!«
    »Ist sie böse?«
    »Halb böse«, sagte der Torhüter und schob den Riegel vor.

Zweites Kapitel, das von dem großartigen Aufstieg des Drachen handelt und von seinem bedenklichen Ende
    Rums!
    Der Mittagschuss hallte über Peking, und wer eine Uhr hatte, die falsch ging, konnte sie richten. Die meisten Leute in Peking
     haben keine Uhr, und sie brauchen auch keine. Sie brauchen nicht einmal den Mittagschuss,
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