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Große Kinder

Große Kinder

Titel: Große Kinder
Autoren: Oggi Enderlein
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weiteren Kreisen auskundschaften konnte und an dem sie unabhängig und »frei« war. Sie schwärmt noch als erwachsene Frau:
     
    Mein Glück erreichte seinen Höhepunkt in den zweieinhalb Monaten, die ich auf dem Lande verbrachte   ... Meine Zeit war dann nicht mehr durch feste Anforderungen geregelt, deren Fehlen aber wurde durch die Unendlichkeit der Horizonte, die sich meiner Neugierde eröffneten, reichlich kompensiert. Ich erforschte sie auf eigene Faust, die Erwachsenen standen nicht mehr als Mittler zwischen der Welt und mir   ...
    Wir zerschunden uns die Beine an Ginstergestrüpp, die Arme an Dorngesträuch, wir erforschten kilometerweise im Umkreis Kastanienwälder, Felder und Heideland. Wir machten große Entdeckungen: Teiche, einen Wasserfall, mitten im Heidekraut graue Granitblöcke, die wir erkletterten   ...
(Beauvoir, S.   72   ff.)
     
    In ihren heimlichen Abenteuern suchen Kinder immer wieder kleinere (und leider manchmal auch größere) Gefahren. Damit stellen sie sich unbewusst sozusagen winzig kleinen »Todesängsten«. Das Erlebnis, sie unbeschadet überstanden zu haben, festigt eine tiefe, unbewusste Lebenszuversicht. (Darauf gehe ich im Kapitel »Ich spüre das Leben in mir!« noch näher ein.)
    Geheimnisse und Heimlichkeiten brauchen aber keineswegs die Verlockung von Abenteuer, um Kinder in ihren Bann zu ziehen. Allein schon, dass etwas »geheim« ist, erzeugt bei großen Kindern ein unvergleichliches »Heimlichkeitskribbeln«. In einer kleinen Szene, die Siegfried von Vegesack beschreibt, wird das deutlich:
     
    »Aber ich habe ein Geheimnis«, fuhr Boris fort, »und das muß ich dir jetzt sagen. Aber du darfst es niemandem verraten!«
    »Niemandem!« beteuerte Aurel feierlich   ...
    »Dann mußt du es schwören!«
    Aurel hockte sich hin und hob die Hand: »Ich schwöre!«
    Boris rückte noch näher an sein Ohr und flüsterte:
    »Ich weiß eine Höhle, die niemand weiß, auf der Insel, und dort habe ich etwas versteckt. Morgen zeige ich es dir.«
    »Eine Höhle?« Aurels Herz klopfte.
    »Ja, eine richtige Höhle!« versicherte Boris. »Und du   – hast du auch ein Geheimnis?«
    Aurel grübelte lange angestrengt: Nein, er kannte keine Höhle   ... und der Heuboden war   ... eigentlich kein   ... Geheimnis   ... Ein richtiges Geheimnis ist nur das, was niemand weiß. Wie schrecklich, daß er keins hatte. Er schämte sich sehr. Aber da fiel ihm ein, daß er einmal in Blumbergshof unter der Gartenveranda heimlich einen toten Maulwurf begraben hatte. Dieses Geheimnis konnte sich zwar nicht mit der Höhle messen, aber ein besseres wußte er nicht. Und so vertraute er Boris den toten Maulwurf an. Und auch Boris schwor, ihn niemandem zu verraten.
(Vegesack, S.   100   f.)
     
    Geheimnisse verbrüdern und verbünden. Und mit Geheimnissen kann man andere ausschließen. Das sind außerordentlich wichtige soziale Basiserfahrungen, die Kinder im Alter zwischen 7 und 13 in vielen Variationen durchspielen (mehr dazu in den Kapiteln »Wo geht’s lang?«, »Wir sind doch wer!« und bei den »Zehnjährigen«). Während die Erwachsenen aber wirklich draußen bleiben und nicht erfahren sollen, was man da heimlich miteinander ausheckt, treibt, tuschelt, schreibt, sammelt, versteckt, sind die ausgeschlossenen Altersgenossen unersetzliche Partner im Spiel der Heimlichkeiten. Darin liegtihr zweiter Effekt: Wie beim Katz-und-Maus-Spiel (das übrigens eines der Lieblingsspiele von Kindern dieser Altersgruppe ist) werden nämlich die »Unwissenden« dazu herausgefordert, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und garantiert steigen die Kinder auf Heimlichkeiten ihrer Kameraden ein. Heimlichkeiten und Geheimnisse sind also ganz wichtige Schwungräder für die Begegnung der Kinder untereinander.
    Gleichzeitig sind Geheimnisse Machtmittel, um andere Kinder zu bestechen und zu unterdrücken. Das finden Erwachsene nicht schön. Und damit haben sie Recht, und das sollten sie den Kindern auch ruhig zu verstehen geben. Aber man muss auch sehen, dass Kinder mit ihren »Machtspielen« gegenseitig ihre innere Stärke und Widerstandsfähigkeit austesten. Wenn sich ein Kind nicht (mehr) von den Heimlichtuereien der Kameraden ärgern und locken lässt, beweist es damit, dass es ein gutes Maß an selbstbewusster Unabhängigkeit entwickelt hat, auf die es ein Leben lang aufbauen kann.
    Auch ein Geheimnis zu wahren, erfordert innere Kraft, denn Geheimnisse haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie unerbittlich danach
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