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Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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über das Abendessen aus. Er würde sagen, dass es dumm, aber mutig von ihr gewesen sei, allein in den Wald zu gehen, und wenn sie ihm daraufhin erzählte, dass sie von Karina losgeschickt worden sei, würde er seine Frau für immer verbannen.
    Doch als sie das Haus betrat, wurde sie schon von Karina erwartet, die zornig aussah und leichenblass war. Sie packte Nadja, entriss ihr das Kaninchen, stieß sie in ihr Zimmer und verriegelte die Tür. Nadja hämmerte dagegen und schrie, sie wolle raus. Aber wer konnte sie schon hören? Hungrig und traurig, wie sie war, ließ sie ihren Tränen schließlich freien Lauf. Sie rollte sich auf dem Bett zusammen, geschüttelt von Schluchzern, wachgehalten vom Knurren ihres leeren Magens. Sie vermisste Hawel und sie vermisste ihre Mutter. Sie hatte nur ein Stückchen Rübe zum Frühstück gegessen, und wenn Karina ihr das Kaninchen nicht abgenommen hätte, dann hätte sie das Tier sofort roh verspeist.
    Später hörte sie, wie die Haustür aufgestoßen wurde, danach die schwankenden Schritte ihres Vaters im Flur, ein zögerndes Kratzen an ihrer Tür. Bevor sie antworten konnte, vernahm sie Karinas gurrende, lockende Stimme. Dann Stille, das Rascheln von Stoff, ein dumpfer Laut, gefolgt von Stöhnen und rhythmischem Keuchen. Nadja vergrub ihren Kopf im Kissen. Karina wusste genau, dass sie alles mitanhören konnte, und schien sie auf diese Weise bestrafen zu wollen. Nadja verkroch sich unter der Decke, doch der immer schneller werdende Rhythmus drang trotzdem an ihre Ohren. Sie erinnerte sich an die Worte Karinas am Abend des Tanzes: Ich warne dich nur dieses eine Mal. Geh fort. Geh fort. Geh fort.
    Am nächsten Tag stand Nadjas Vater erst am frühen Nachmittag auf. Als er die Küche betrat, reichte Nadja ihm einen Tee, doch er wich vor ihr zurück, sein Blick zuckte über den Fußboden. Karina stand mit verkniffener Miene an der Spüle und rührte eine Lauge an.
    »Ich gehe zu Anton«, sagte Maxim.
    Nadja hätte ihn am liebsten angefleht, sie nicht allein zu lassen. Andererseits war ihr bewusst, wie lächerlich diese Bitte gewesen wäre. Kurz darauf war er weg, und als Karina ihren Arm packte und ihr wieder befahl: »Schau nach den Fallen!«, gehorchte Nadja wortlos.
    Sie hatte den Gefahren des Waldes einmal getrotzt, und sie würde es wieder schaffen. Aber dieses Mal würde sie das Kaninchen vorher braten und satt und zufrieden heimkehren. Dann wäre sie kräftig genug, um Karina die Stirn zu bieten, ob mit oder ohne Unterstützung ihres Vaters.
    Nadja war zuversichtlich, und diese Zuversicht machte sie leichtsinnig. Sie lief von einer Falle zur nächsten, ohne sich darum zu kümmern, dass es zu schneien begonnen hatte. Erst bei Anbruch der Dunkelheit bemerkte sie, dass Hawels weiße Steine von Schnee bedeckt worden waren.
    Nadja stand da, während die Flocken fielen, und drehte sich einmal im Kreis; sie hielt Ausschau nach einer Wegmarke, die sie wieder auf den Pfad führte. Der Wald, dessen Bäume nur noch schwarze Striche waren, erstreckte sich in sanften, weiten Schwüngen in alle Richtungen und war von einem grauen Zwielicht erfüllt. Nadja wusste beim besten Willen nicht, wohin sie sich wenden sollte. Ringsumher herrschte Stille, nur unterbrochen vom Heulen des auffrischenden Windes und ihren eigenen heiseren Atemzügen. Langsam versank der Wald in Dunkelheit.
    Und da nahm sie den Geruch wahr, warm und süß. Er war so intensiv, dass ihre Nase zu prickeln begann – es war der Duft karamellisierten Zuckers.
    Nadjas Atem ging schnell und keuchend, und obwohl die Angst sie zu überwältigen drohte, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Sie dachte an das Kaninchen, das sie aus der Falle geholt hatte, an seinen hektischen Herzschlag, die panisch verdrehten Augen. Da streifte sie etwas im Dunkeln und sie rannte los, ohne lange zu überlegen.
    Sie stürmte blindlings durch den Wald. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, sie stolperte über verschneite Dornenranken, wusste nicht, ob das, was sie hörte, ihre eigenen taumelnden Schritte oder die eines Verfolgers waren, eines Geschöpfes mit einem Maul voller Reißzähne und langen, bleichen Fingern, die ihren Mantelsaum umklammerten.
    Beim Anblick des Lichtes, das zwischen den Bäumen schimmerte, glaubte sie, doch irgendwie nach Hause gelangt zu sein, und war kurz wie berauscht. Aber als sie auf die Lichtung stürmte, erkannte sie, dass es sich um eine fremde Hütte handelte – schmal und schief und mit einem Licht in jedem Fenster.
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