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Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Die Hexe von Duwa: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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nur eine schöne, lächelnde Frau gesehen hätte, die sich mit seiner Tochter unterhielt, sie vielleicht zum Tanzen ermutigte.
    »Ich warne dich nur dieses eine Mal«, zischte Karina Stojanowa. »Geh fort.«
    Am nächsten Tag merkte die Mutter von Genetschka Lukin, dass das Bett ihrer Tochter unberührt war. Die Königin des Tauwetters war nach dem Tanz nicht heimgekehrt. Am Zweig einer schlanken, am Waldrand stehenden Birke hing eine rote Schleife, die man dem Mädchen anscheinend vom Kopf gerissen hatte, denn im Knoten flatterten noch goldblonde Haare.
    Nadja stand stumm da, als Genetschkas Mutter auf die Knie fiel und zu klagen begann, die Heiligen anrief und die rote Schleife unter Tränen gegen ihre Lippen presste. Auf der anderen Straßenseite stand Karina und betrachtete die Frau aus schwarzen Augen, die Lippen geschürzt wie gesprungene Rinde, die langen, schmalen Finger gespreizt wie Zweige, die ein Sturm entlaubt hatte.
    Als Hawel schließlich Abschied von seiner Familie nahm, zog er Nadja dicht an sich. »Pass auf dich auf«, flüsterte er ihr ins Ohr.
    »Wie denn?«, erwiderte Nadja, aber Hawel wusste keine Antwort.
    Eine Woche später wurden Maxim Gruschow und Karina Stojanowa in der kleinen, weiß getünchten Kapelle im Dorf getraut. Wegen der Hungersnot gab es kein Hochzeitsfestessen und die Braut hatte keine Blumen im Haar, trug aber das Kokoschnik ihrer Großmutter, eine mit Perlen geschmückte Haube. Alle stimmten darin überein, dass sie bildschön war, auch wenn die Perlen mit Sicherheit falsch waren.
    In dieser Nacht schlief Nadja bei Baba Olja, um Braut und Bräutigam nicht zu stören. Als sie am nächsten Morgen heimkehrte, herrschte Stille im Haus, das Ehepaar war noch im Bett. Eine umgekippte Flasche lag auf dem Tisch, dazu die Überbleibsel dessen, was offenbar ein Küchlein gewesen war. Die Krümel dufteten nach Orangen. Karina schien doch noch etwas Zucker gehortet zu haben.
    Nadja konnte nicht anders – sie leckte den Teller ab.
    Obwohl Hawel fort war, war es im Haus nun unruhiger denn je. Maxim, der nicht stillsitzen konnte, lief ständig durch die Zimmer. Nach der Hochzeit hatte er ruhig, fast glücklich gewirkt, aber nun wurde er täglich rastloser. Er trank und fluchte, weil er keine Arbeit hatte, weil sein Schlitten weg war und sein Magen leer. Er blaffte Nadja an, und wenn sie ihm zu nahe kam, wandte er sich ab, als wäre ihm ihr Anblick unerträglich. Wenn er ihr – was selten geschah – etwas Zuneigung schenkte, erschien Karina in der Tür, stand mit gierigen, schwarzen Augen da, einen Lappen in den schmalen Händen. Sie wies Nadja irgendeine überflüssige Arbeit in der Küche zu und befahl ihr, ihrem Vater nicht in die Quere zu kommen.
    Während der Mahlzeiten starrte Karina Nadja an, als wäre jeder Löffel Wassersuppe, den sie aß, ein Verbrechen, als würde Karinas Magen mit jedem Schaben des Löffels etwas weiter ausgehöhlt, das Loch in ihrem Inneren etwas größer.
    Nach einer guten Woche ergriff Karina Nadja beim Arm und nickte in Richtung Wald. »Schau nach den Fallen«, sagte sie.
    »Aber es ist schon fast dunkel«, wandte Nadja ein.
    »Sei nicht albern. Es ist hell genug. Mach dich nützlich und geh! Und komm ja nicht ohne ein Kaninchen für unser Abendessen zurück.«
    »Wo ist mein Vater?«, verlangte Nadja zu wissen.
    »Er ist bei Anton Kozar, spielt Karten, trinkt Kwass und versucht zu vergessen, dass er mit einer so nutzlosen Tochter geschlagen ist.« Karina schubste Nadja zur Tür. »Und nun geh, oder ich erzähle ihm, dass ich dich mit Viktor Jeronoff erwischt habe.«
    Nadja wäre am liebsten zu Anton Kozars Hütte gegangen, um ihrem Vater den Kwass aus der Hand zu schlagen und ihm zu sagen, dass sie ihr Zuhause von dieser gefährlichen Fremden mit dem finsteren Blick zurückhaben wolle. Wenn Nadja sich der Unterstützung ihres Vaters sicher gewesen wäre, hätte sie das auch getan. Aber so ging sie in den Wald.
    Sie bemühte sich erst gar nicht um Stille und Vorsicht, und nachdem sie die ersten zwei Fallen leer vorgefunden hatte, ignorierte sie ihr hämmerndes Herz und die immer länger werdenden Schatten und folgte den weißen Steinen, mit denen Hawel den Pfad markiert hatte. In der dritten Falle entdeckte sie ein braunes, vor Angst zitterndes Kaninchen. Sie überhörte das panische Pfeifen seiner Lungen, als sie ihm mit einer entschlossenen Bewegung den Hals umdrehte. Der kleine Körper erschlaffte. Auf dem Heimweg malte sie sich die Freude ihres Vaters
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