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Grischa: Der allzu schlaue Fuchs: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Grischa: Der allzu schlaue Fuchs: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)

Titel: Grischa: Der allzu schlaue Fuchs: Ein Märchen aus Rawka (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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schwarze Bär war plötzlich verschwunden. Den Tieren war bewusst, dass sich ihre Zahl in letzter Zeit verringert hatte. Rotwild und kleinere Tiere wie Kaninchen und Eichhörnchen, Moorhühner und Wühlmäuse waren spärlicher geworden. Das war nichts Besonderes. Schwere Zeiten gab es immer wieder. Doch Iwan Gostow war weder ein scheues Reh noch ein ängstliches Mäuschen. Als Koja bewusst wurde, dass er den Bären seit Wochen nicht mehr gesehen oder sein Gebrüll vernommen hatte, machte er sich große Sorgen.
    »Lula«, sagte er, »fliege in die Stadt. Vielleicht bringst du dort etwas in Erfahrung.«
    Die Nachtigall reckte ihr Schnäbelchen. »Entweder du bittest mich höflich, Koja, oder ich fliege dorthin, wo es warm ist, und lasse dich mit deinen Sorgen allein.«
    Da verneigte sich Koja vor Lula und pries ihr glänzendes Gefieder, die Reinheit ihres Gesangs, ihr hübsches Nest und so weiter und so fort, bis ihn die Nachtigall schließlich mit einem schrillen Ruf unterbrach.
    »Beim nächsten Mal reicht es, wenn du ›bitte‹ sagst. Ich breche gern auf, aber hör endlich auf zu schwätzen.«
    Lula schlug mit den Flügeln und verschwand in den blauen Himmel. Als sie eine Stunde später zurückkehrte, stand die blanke Angst in ihren pechschwarzen Augen. Sie hüpfte und flatterte hin und her und brauchte mehrere Minuten, bis sie sich auf einem Ast niederließ.
    »Der Tod ist da«, sagte sie. »Lew Jurek ist nach Polwost gekommen.«
    Die Tiere verstummten. Lew Jurek war kein gewöhnlicher Jäger. Angeblich hinterließ er keine Spuren und seine Flinte schoss lautlos. Er reiste quer durch Rawka, von Dorf zu Dorf, und schoss die Wälder leer, wo auch immer er war.
    »Er ist aus Balakirew gekommen.« Die schöne Stimme der Nachtigall zitterte. »Er hat die Läden der Stadt bis unter das Dach mit Wildbret und Pelzen gefüllt. Die Spatzen behaupten, es gebe im ganzen Wald kein einziges Tier mehr.«
    »Hast du ihn zu Gesicht bekommen?«, fragte der Dachs.
    Lula nickte. »Ich habe nie einen größeren Mann gesehen. Er hat breite Schultern und ist schön wie ein Prinz.«
    »Und die junge Frau?«
    Jurek war angeblich immer mit seiner Halbschwester Sofija unterwegs. Er zwang sie, die Felle, die er nicht loswurde, zu einem grausigen Mantel zusammenzunähen, der hinter ihr über den Boden schleifte.
    »Die habe ich auch gesehen«, antwortete die Nachtigall, »mit ihrem Mantel. Koja … der Kragen besteht aus sieben weißen Fuchsschwänzen.«
    Koja legte die Stirn in Falten. Seine Schwester war in der Nähe von Balakirew zu Hause. Sie hatte sieben Welpen gehabt, alle mit einem weißen Schwanz.
    »Ich werde Nachforschungen anstellen«, beschloss er, und die Tiere atmeten ein wenig auf, denn niemand von ihnen war so schlau wie Koja.
    Koja wartete, bis die Sonne untergegangen war. Dann begab er sich nach Polwost, Lula auf seiner Schulter. Sie hielten sich im Schatten und schlichen durch die Gassen, bis sie mitten in der Stadt waren.
    Jurek hatte mit seiner Schwester ein stattliches Haus in der Nähe der Schenken gemietet, die den Barschaj-Boulevard säumten. Koja stellte sich auf die Hinterbeine und drückte die Schnauze gegen eine Fensterscheibe.
    Der Jäger saß mit Freunden an einem reich gedeckten Tisch – Kohl in Weinsoße, mit Wachteleiern gefülltes Kalb, fette Würste und Gewürzgurken mit Salbei. Die Petroleumlampen leuchteten hell. Wahrlich, der Jäger war zu großem Reichtum gelangt.
    Jurek war ein hochgewachsener Mann, jünger als erwartet, aber so gut aussehend, wie Lula gesagt hatte. Er trug ein edles Leinenhemd und eine pelzgesäumte Weste, in deren Tasche eine goldene Uhr steckte. Der Blick seiner tintenblauen Augen zuckte immer wieder zu seiner Schwester, die vor dem Feuer las. Koja konnte ihr Gesicht nicht ganz erkennen, aber Sofija hatte ein ausgesprochen hübsches Profil, und ihre anmutigen, in Hausschuhen steckenden Füße ruhten auf dem Pelz eines großen schwarzen Bären.
    Beim Anblick des abgebalgten Pelzes seines Freundes, der so selbstverständlich auf den blank polierten Fußbodenfliesen lag, gerann Koja das Blut in den Adern. Iwan Gostows Pelz war glänzender und sauberer als zu seinen Lebzeiten, und das betrübte Koja sehr. Ein weniger gewieftes Geschöpf wäre wohl von Trauer überwältigt worden und auf Hügel und Bergeshöhen geflohen, um dem Tod zu entrinnen, den es nicht überlisten zu können glaubte. Doch Koja war von scharfem Verstand und so drängte sich ihm eine brennende Frage auf: Iwan
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