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Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)

Titel: Grischa, Band 2: Eisige Wellen (German Edition)
Autoren: Leigh Bardugo
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standen Schweißperlen auf seiner Oberlippe.
    Auf dem Weg durch die Schenke drehte ich mich noch einmal nach ihm um. Er sah uns nach, die kleinen Augen verengt, die Arme vor der Brust verschränkt. Meine Nervosität kehrte zurück.
    Ich blieb am Fuß der Treppe stehen. »Der Mann mag uns wirklich nicht«, sagte ich.
    Maljen, der schon die Treppe hinaufging, zuckte mit den Schultern. »Nein, aber er mag unser Geld. Und in ein paar Tagen ist er uns los.«
    Ich versuchte mich zu beruhigen. Ich war schon den ganzen Nachmittag angespannt gewesen.
    »Na gut«, brummte ich und folgte Maljen. »Aber ich würde trotzdem gern wissen, wie man ›Du bist ein Esel‹ auf Kerch sagt – nur für alle Fälle.«
    »Je bent ezel.«
    »Im Ernst?«
    Maljen lachte. »Das Fluchen ist das Erste, was die Matrosen einem beibringen.«
    Der dritte Stock der Herberge war in einem noch schlechteren Zustand als die Schenke. Der Teppich war fadenscheinig und verblichen, der finstere Flur stank nach Tabak und Kohl. Alle Zimmertüren, an denen wir vorbeigingen, waren geschlossen, hinter jeder herrschte Stille. Ich fand das unheimlich, aber vielleicht waren die Leute ja unterwegs.
    Das einzige Licht fiel durch ein trübes Fenster ganz hinten im Flur. Während Maljen mit dem Schlüssel hantierte, warf ich einen Blick hinaus, sah die unten vorbeirumpelnden Karren und Kutschen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann unter einem Balkon und sah zur Herberge hinauf. Er zupfte an Kragen und Ärmelaufschlägen, als wären seine Kleider neu und würden nicht richtig passen. Als sich unsere Blicke trafen, wandte er rasch den Kopf ab.
    Angst durchzuckte mich.
    »Maljen«, flüsterte ich und griff nach seinem Arm.
    Doch es war zu spät. Die Tür schwang auf.
    »Nein!«, schrie ich und riss die Hände hoch. Eine blendende Kaskade aus Licht rollte durch den Flur. Dann packten mich grobe Hände und drehten mir die Arme auf den Rücken. Ich wollte mich wehren, trat und schlug um mich, wurde aber in das Zimmer geschleift.
    »Ganz ruhig.« Die Stimme aus der Ecke klang gelassen. »Ich fände es zu bedauerlich, deinem Freund schon jetzt den Bauch aufschlitzen zu müssen.«
    Die Zeit schien sich zu verlangsamen. Mein Blick glitt durch das schäbige Zimmer mit der niedrigen Decke. Ich sah die Waschschüssel auf dem wackeligen Tisch, sah die in einem schmalen Strahl Sonnenlicht tanzenden Staubflocken, die blitzende Klinge, die auf Maljens Kehle lag. Der Mann, der ihn festhielt, hatte ein höhnisches Grinsen aufgesetzt, das ich nur allzu gut kannte. Iwan . Und da waren weitere Männer und Frauen, alle in Mänteln und Hosen, wie sie die Kaufleute und Arbeiter der Semeni trugen, doch ich erkannte mehrere Gesichter aus meiner Zeit in der Zweiten Armee. Sie waren Grischa.
    Hinter ihnen, eingehüllt in Schatten, saß der Dunkle auf dem wackeligen Stuhl wie auf einem Thron.
    Für einen Augenblick herrschte Totenstille im Zimmer. Ich konnte Maljens Atem und das Scharren von Stiefeln hören. Auf der Straße rief ein Mann einen Gruß. Mein Blick haftete wie gebannt auf den Händen des Dunklen – seine langen weißen Finger lagen entspannt auf den Stuhllehnen. Mir ging der absurde Gedanke durch den Kopf, dass ich ihn noch nie in Alltagskleidung gesehen hatte.
    Dann wurde ich mit Wucht von der Wirklichkeit eingeholt. Sollte es so enden? Kampflos? Ohne einen einzigen Schuss? Ohne Gebrüll? Meiner Brust entrang sich ein wütendes und ohnmächtiges Schluchzen.
    »Nehmt ihr die Pistole ab und durchsucht sie nach anderen Waffen«, befahl der Dunkle leise. Ich spürte, wie meiner Hüfte das tröstliche Gewicht der Feuerwaffe genommen, wie der Dolch aus der an meinem Unterarm befestigten Scheide gezogen wurde. »Ich befehle ihnen jetzt, dich loszulassen«, sagte er, nachdem ich entwaffnet worden war. »Aber denk daran, dass Iwan dem Leben des Fährtensuchers ein Ende setzt, wenn du auch nur einen einzigen Finger rührst. Hast du verstanden?«
    Ich nickte kurz und steif.
    Er hob einen Finger und die Männer ließen mich so ruckartig los, dass ich ein, zwei Schritte bis in die Mitte des Zimmers stolperte. Dort blieb ich wie versteinert und mit geballten Fäusten stehen.
    Ich hätte den Dunklen mit meiner Macht halbieren oder diese ganze erbärmliche Herberge bis zu den Grundmauern spalten können. Aber Iwan hätte Maljen zuvor die Kehle durchgeschnitten.
    »Wie habt ihr uns gefunden?«, keuchte ich.
    »Ihr habt eine sehr kostbare Spur hinterlassen«, sagte er und warf mit lässiger
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