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Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Chelsea Cain
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könnte.«
    »Gefällt es ihr in Vancouver?«, fragte Rosenberg.
    »Sie fühlt sich sicherer, weil sie in einem andern Bundesstaat ist«, sagte Archie. Die Wahrheit war, dass sie nicht viel miteinander sprachen. Sie kam einmal in der Woche von Vancouver im Staat Washington herüber und brachte die Kinder zu Besuch vorbei, aber sie selbst blieb nicht. Sie ging neuerdings mit einem Unternehmer in Sachen alternativer Energie aus, was immer das sein mochte. Sie setzten die Kinder ab und gingen in die Stadt zum Essen. »Ich versuche, alles möglichst unkompliziert für sie zu machen.«
    Rosenberg neigte den Kopf und sah Archie durchdringend an. »Es ist wichtig für Sie, dass Debbie sich sicher fühlt.«
    Archie legte den Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Über ihm war ein Sprinkler. Nur für den Fall, dass er in Flammen aufging. »Ja.«
    Sie schwiegen eine Weile.
    Archie hörte im Zimmer nebenan jemanden schreien.
    »Fühlen Sie sich sicher?«, fragte Rosenberg.
    Archie hob den Kopf wieder und schwenkte den Finger vor ihr hin und her. »Ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinauswollen.«
    Rosenberg beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf die Oberschenkel. »Sie sind von den Schmerztabletten losgekommen. Ihre Gesundheit hat sich stabilisiert. Sie müssen das Krankenhaus verlassen. Es hat ein ausgezeichnetes ambulantes Programm. Sie werden eine Menge Unterstützung bekommen.«
    Archie schüttelte den Kopf. Selbst wenn er gehen wollte, er hätte nicht gewusst, wohin. »Meine Leberwerte sind noch hoch«, sagte er.
    »Bei der Menge an Vicodin, die Sie geschluckt haben, erstaunt es mich ehrlich gesagt, dass Sie nicht auf der Warteliste für eine Transplantation stehen«, sagte Rosenberg. »Wenn Sie wollen, dass ich Sie bleiben lasse, müssen Sie guten Willen zeigen. Sie müssen üben, außerhalb dieses Krankenhauses zu funktionieren. Sie sind Stufe vier. Gehen Sie spazieren.«
    Der Regen wurde stärker. Archie schaute aus dem Fenster. Der Boden war zu trocken. Es würde Überschwemmungen geben. »Sie ist da draußen«, sagte er. Er konnte sie fühlen. Der Gedanke war idiotisch, Menschen fühlten die Gegenwart eines anderen nicht. Er war kein Hellseher. Er glaubte nicht an Auras, Seelenverbindungen oder kosmische Beziehungen. Und doch wusste er – so wie er nur irgendetwas wusste –, dass Gretchen nie sehr weit von ihm entfernt war.
    Rosenberg legte ihre Hand auf seine und sah ihm in die Augen. »Es wird immer Serienmörder geben«, sagte sie. »Es wird immer Bären im Wald geben.« Sie drückte seine Hand. »Schlimme Dinge geschehen nun mal. Menschen sterben.«
    Archie konnte sich nicht konzentrieren. Das Geschrei auf der anderen Seite des Flurs wurde lauter. Eine Frauenstimme. Aber Archie erkannte nicht, wem sie gehörte.
    Er überlegte, was im Augenblick auf Animal Planet lief.
    Rosenberg saß da und sah ihn an. Wartete. So war das in der Psychiatrie, alle beobachteten einen die ganze Zeit und warteten darauf, dass man zuckte oder schrie oder sagte, es ginge einem wieder besser, vielen Dank für alles.
    Archie hatte die Kunst des Wartens beherrscht. Es war eine nützliche Fähigkeit, wenn man Zeugen vernahm. Freundliches Schweigen. Fast alle Leute verspürten den Drang, die Stille zu füllen, und das war dann der Augenblick, in dem die Einzelheiten zum Vorschein kamen. Die Leute erzählten einem alles, nur um nicht still dasitzen zu müssen.
    Aber Archie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass er derjenige war, der reden sollte. Er zog seine Hand unter Rosenbergs weg. »Stellen Sie einfach Ihre Fragen«, sagte er. Die Fragen, und er durfte gehen. Die Sitzungen mit Rosenberg endeten immer mit denselben drei Fragen. Hat sich seit gestern etwas geändert? Bewerten Sie Ihre Stimmung. Irgendwelche unmittelbaren Probleme?
    »Wenn Sie hier rauskommen«, sagte Rosenberg, »liegt immer noch ein Leben vor Ihnen.«
    Was für ein Leben? Er hatte seine Familie vertrieben. Sein Job war fraglich. Er wusste nicht, wo er wohnen sollte. Das Einzige, was er hatte, war Gretchen.
    Er würde natürlich gehen müssen, das war ihm klar. Aber jetzt noch nicht.
    Er war noch nicht bereit dafür.
    Er besaß einen Trumpf, und er beschloss, ihn auszuspielen. Er sah der Psychologin in die Augen. »Ich bin immer noch eine Gefahr für mich selbst«, sagte er. Er wusste, solange er das sagte, durften sie ihn nicht zwingen, das Krankenhaus zu verlassen. Aber zum ersten Mal seit zwei Monaten war es gelogen. Er wollte nicht sterben. Die
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