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Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Chelsea Cain
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an Archies Hals gehalten, hatte sein warmes Blut durch den Stoff sickern gespürt. Sie gab sich die Schuld an Gretchens Flucht. Sie fragte sich, ob Henry ihr ebenfalls die Schuld gab. Immerhin hatte sie Gretchen in einem Anfall von Panik den Zugang zu einer Waffe verschafft.
    Henry musterte sie von Kopf bis Fuß und runzelte die Stirn. Susan dachte, er würde eine spöttische Bemerkung über ihr Haar machen. Aber stattdessen sah er sie mit zusammengekniffenen Augen an und sagte: »Sie geben auf sich acht, ja?«
    »Ich nehme Vitamine«, sagte Susan.
    Henry seufzte. »Ich rede davon, dass Sie nicht immer denselben Weg zur Arbeit fahren«, sagte er. »Ihre Tür nachts absperren. Solche Dinge.«
    Susan bekam eine Gänsehaut. Wenn Henry sie dazu aufforderte, musste er es für möglich halten, dass sie in Gefahr war. »O Gott«, sagte sie. »Sie glauben, es könnte tatsächlich Gretchen sein.«
    »Treffen Sie einfach ein paar Vorsichtsmaßnahmen«, sagte Henry. »Geht das?«
    Susan schnürte die Angst die Kehle zu. Vorsichtsmaßnahmen? Sie war wieder zu ihrer Mutter gezogen. Solange Susan zurückdenken konnte, hatten sie ihre Haustür nie abgesperrt – bis vor zwei Monaten. Seither hatte Bliss, ihre Mutter, acht Schlüssel verloren. »Was ist da draußen passiert?«, fragte sie. »Gibt es etwas, das Sie nicht veröffentlichen?«
    Die Tür ging auf, und eine Schwester erschien.
    »Ich hätte nichts sagen sollen«, sagte Henry.
    »Glauben Sie, ich denke nicht die ganze Zeit an sie?«, sagte Susan. »Wohin ich gehe, sehe ich ihr Gesicht. Es ist auf allen Kanälen. Gestern habe ich in der Stadt einen Jugendlichen T-Shirts mit dem Aufdruck LAUF, GRETCHEN verkaufen sehen. Sie verkaufen diese herzförmigen digitalen Schlüsselkettchen, die die Tage seit ihrer Flucht zählen. In L. A. kann man sich eine Gretchen-Lowell-Maniküre machen lassen. Rosa mit blutroten Spitzen.«
    Die Schwester starrte Susan an. Susan kümmerte es nicht.
    »Wenn sie wieder in der Gegend ist«, sagte sie, »haben die Leute ein Recht, es zu erfahren. Sie müssen sich an die Öffentlichkeit wenden.«
    Henry ging durch die Tür.
    »Ich warte hier«, sagte Susan. Die Tür ging zu. Susan lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Wenn Gretchen wieder da war, würde sie sich einen nach dem anderen von ihnen schnappen, nur zum Spaß.
    Sie rief Derek wieder an.
    Er ging nicht ran.
    Susan wühlte in ihrer Handtasche, zog die Wagenschlüssel heraus und schaute auf die Digitalanzeige an der Schlüsselkette. Gretchen war seit sechsundsiebzig Tagen auf freiem Fuß.
    Für den Fall, dass sie hundert Tage schaffte, hatte eine Bar in der City versprochen, den ersten hundert blonden Frauen, die durch die Tür spazierten, einen Bloody Mary zu spendieren.
    Wenn man schon ermordet wurde, dann lieber betrunken.

_ 7 _
    Töpfern war das Letzte, wonach Archie der Sinn stand, aber er rollte den Ton trotzdem unter seiner Hand zu einer glatten Kugel. Das morgendliche kreative Werken hatte vor zehn Minuten begonnen. Archie saß seinem Zimmergenossen Frank an einem Tisch gegenüber. Kreatives Werken. Gretchen war irgendwo da draußen und tötete wieder, aber er spielte in der Sicherheit der Klapsmühle mit Ton.
    Archie hatte nichts gegen die Handarbeitsprojekte. Ihn störten weder Franks Schnarchen noch die Gruppentherapiesitzungen oder die Pantoffeln. Es gefiel ihm inzwischen, dass er gesagt bekam, wann er zu essen oder zu schlafen hatte. Je weniger Verantwortung er hatte, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass er etwas verpfuschte.
    Er war eingesperrt. Und er war frei. Sein Team, die Task Force, die er während des größten Teils seiner Berufslaufbahn geleitet hatte, suchte ohne ihn da draußen nach Gretchen Lowell. Und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war es ihm egal. Wenn Gretchen wollte, dass er starb, würde sie ihn töten. Es spielte keine Rolle, wo er sich befand. Sie würden sie nicht erwischen, solange sie nicht erwischt werden wollte.
    Dann kam Henry in den Raum spaziert. Und Archie spürte unwillkürlich, wie sich seine alte Besessenheit wieder regte.
    Henry zog sich einen Stuhl von einem anderen Tisch heran und setzte sich zu Archie und Frank.
    »Die Milz einer Ziege«, sagte er. »Menschenaugen.«
    Die meisten übrigen Patienten waren zum Rauchen auf dem vergitterten Balkon, und abgesehen von dem Fernsehgerät, aus dem Animal Planet dröhnte, war es still im Gemeinschaftsraum. Archie sah zu Frank auf der anderen Tischseite hinüber. Der konzentrierte sich auf seinen
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