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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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Und auch dort blieb sie nie länger als fünf Jahre, manches Mal nicht länger als eine Spielzeit. In London wollte sie nun endlich sesshaft werden, nach ihrem dritten Engagement am Burgtheater, ihrer letzten Station, in der sie zum Finale ihrer Karriere noch einmal die Emilia Galotti inszeniert hatte, und das nicht, weil ihr der Klassiker so sehr am Herzen lag, sondern einzig darum, dass Lessing sich noch einmal im Grabe umdrehen konnte, wo er doch sonst keine Freude mehr hatte.
    »Entschuldigung …«
    Gretchen Morgenthau erwachte aus ihrem Leben, sie sah die Augen des Taxifahrers, im Rückspiegel, große, braune Augen, die ein wenig zu neugierig wirkten, wie die eines kleinen Jungen, der über einen Zaun spinkst, wohl wissend, dass auf der anderen Seite Verbotenes keimt.
    »… irgendwie kommen Sie mir bekannt vor.«
    Irgendwie kommen Sie mir bekannt vor. Wie oft hatte sie diesen Spruch schon gehört. Irgendwie bekannt. In jungen Jahren wurde sie oft mit einem Filmstar oder sonstigem Gemüse verwechselt. Und nun? Welche Filmstars gab es denn in ihrem Alter? Scarlett Johansson vielleicht. Ja, gut, das konnte sein, die Ähnlichkeit auf zwei, drei Metern Entfernung war nur schwer zu leugnen.
    »Sind Sie nicht …«
    »Nein.«
    »Sie wissen doch noch gar nicht …«
    »Doch, ich weiß sehr wohl, mit wem Sie mich verwechseln.«
    »Ach ja?«
    »Ja.«
    »Mit wem?«
    »Scarlett Johansson.«
    Jassir hatte die Wahl: Wahrheit oder Trinkgeld. Er war in dem Glauben erzogen worden, dass Lügen kurze Beine haben, die Erfahrung aber hatte ihn gelehrt, dass es sich mit kurzen Beinen besser laufen lässt als mit gar keinen. Andererseits, so sagte sein Stolz, war er keine Hure.
    »Scarlett Johansson? Also Schwester, bei allem Respekt, wirklich nicht.«
    »Klingeling, Sie hatten Ihre zwei Minuten.«
    »Irgendwie sind Sie anders als andere Frauen Ihres Alters.«
    Ja, natürlich. Sie gehörte nicht zur Fraktion der lieben Omis mit praktischer Dauerwelle. Und sie hasste es, wenn alte Menschen in Film und Literatur als nette, trottelige und total sympathische Trullas dargestellt wurden. Es gab nur zwei Dinge, die sie nicht war: nett und trottelig. Und alt natürlich auch nicht.
    In Marylebone steckten sie fest, keinen Zentimeter ging es vorwärts, von weit her waren Sirenen zu hören, wahrscheinlich übten Menschen wieder totfahren. Ein Rudel Touristen folgte einem Touristenführer, um die Stadt besser kennenzulernen, die im Prospekt eigentlich viel schöner, bunter und aufregender ausgesehen hatte.
    »Weshalb ich …«
    »… frage. Ja, ich weiß. Sie sind nicht nur Taxifahrer, nein, natürlich nicht, sondern, wie nennt man das gleich in Ihren Kreisen, Reimmeister? Sie haben ein Gedicht über Christopher Marlowe geschrieben, wie er eine Kuh penetriert. Natürlich aus einer rein existenzialistischen Perspektive. Unter Ihrem Künstlernamen Bertolt Bricht. Wie lustig. Und Sie möchten wissen, wie ich Ihre Gedichte finde, weil Sie mich und meine Kunst vergöttern.«
    Jassir schaute leicht irritiert in den Rückspiegel. Er fragte sich, ob Miss Crystal Meth vielleicht aus der Plemplem-Station entflohen war. »Ich schreibe keine Reime. Und über Penner, die Kühe ficken, schon mal gar nicht. Brauchen Sie vielleicht eine neue Zahnbürste?«
    »Bitte?«
    »Ultraschall. Mein Top-Model ist momentan die Bugatti Emotion 3000, vier Reinigungsmodi, visuelle und sensitive Andruckkontrolle, zwei Bürstenköpfe und Ladestation inklusive. In der Ed-Hardy-Version mit Totenköpfen und roten Rosen für nur 59,95. Wenn Sie mehr als drei Stück abnehmen, kann ich Ihnen einen Rabatt von fünf Prozent gewähren. Bei mehr als zehn lege ich noch eine Rolex drauf, mit Zertifikat natürlich.«
    Seine dunklen Locken erinnerten sie an Marcel, einen Dramaturgen aus Prag, mit dem sie einige Zeit in den Siebzigern verbracht hatte und der glaubte, er könne Gottlob Frege an die Wand denken, gleichwohl ihm die Arithmetik stets ein schwarzes Loch war, ihm selbst das Einmaleins nie ganz geheuer erschien. Sie hatte die Liaison beendet, als er in einem romantischen Moment der Zweisamkeit salbaderte, dass die Cantor-Menge und die Hausdorff-Dimension die wegweisenden Impulse für die fraktale Geometrie waren und dass Benoît Mandelbrot von den Beamten der Mathematik verlacht wurde, einzig, weil er ein Genie war. Da hatte sie gesagt, sie müsse Zigaretten holen. In Kopenhagen.
    »Ich glaube, Ihr Schweigen bedeutet, dass Sie noch ganz geflasht sind von meinem Angebot,
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