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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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war nur ein Gerücht. Und auch wenn der ein oder andere Erzähler vielleicht ein klein wenig zur Übertreibung neigte, so waren doch alle einer Meinung, dass selbst noch der reinste Buddhist im Vergleich wie ein grobschlächtiger Metzger wirkte. Es war also nicht anzunehmen, dass es in Gwynfaer jemals einen Hund gab, der mehr geliebt wurde als Arle. In den letzten beiden Monaten aber konnte er kaum noch gehen, die Arthrose wurde immer schlimmer, und Linne, der selbst schon über 90 war, zog ihn den lieben halben Tag lang in einem Bollerwagen durch die Gegend. Arle schien das nichts auszumachen, ganz im Gegenteil, weich gebettet auf seinem Lieblingskissen und warm ummantelt in schafswolliger Schmusedecke, schien er das chauffierte Leben in vollen Zügen zu genießen. Und vielleicht hätte Arle noch zwei oder drei Jahre gehabt, das ein oder andere kurz angebratene Rindersteak verputzt und hier und da noch eine kleine Heldentat vollbracht, wäre ihm da nicht der Praxisbesuch dazwischengekommen.
    Soweit sich Kyell noch erinnern konnte, fing alles ganz harmlos an. Linne grüßte mit einem geschwätzigen Hallo und Kyell grüßte ebenso ausschweifend zurück. Gemeinsam hoben sie Arle auf den Behandlungstisch und als Kyell in die dunkelbraunen Augen voller Sanftmut blickte, schlug die Erinnerung ein wie ein warmes Sommergewitter. Um die alten Bande neu zu knüpfen, gab er ihm einen Keks, einen Hundekeks, von Tykwer dereinst selbst gebacken. Alle Hunde waren verrückt nach diesen Keksen, auch Arle, der ihn in einem Happs runterschluckte.
    So sah es jedenfalls aus.
    Auf den ersten Blick.
    Bis Arle plötzlich glasige Augen bekam, nach Luft japste und steif zur Seite kippte. Eine merkwürdige Reaktion, zweifelsohne, doch Arle war auch für allerlei Kunststücke bekannt, so konnte er zum Beispiel Stöckchen, die man warf, wieder zurückbringen. Dieses Kunststück aber war neu. Weder Kyell noch Linne kannten es. Es wirkte nahezu echt, wie er die Luft anhielt und sich tot stellte, sehr authentisch, große Kunst. Knapp zwanzig Sekunden lang hielt das Staunen an, bis Kyell als Erster wieder zu Sinnen kam, Arles Maul aufriss, hineingriff und einen matschig eingespeichelten Hundekeks hervorholte.
    Kyell schaute in das schwarze Buch und schnappte sich einen Guedel-Tubus. Er wusste, was er tat. Sagte er. Zu sich selbst. Mund-zu-Tubus-Beatmung. Ganz einfach. Keine Reaktion. Die Sauerstoffflasche. Intranasal. Keine Reaktion. Herzdruckmassage. Arle in die Seitenlage. Den Thorax seitlich komprimieren. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen. 15 Kompressionen, zwei Beatmungen …
    Nach zwanzig Minuten gab Kyell schweißgebadet auf. Die ganze Zeit über hatte Linne ihm zugeschaut, er hatte kein einziges Wort gesagt, kein einziges Wehklagen wurde von welken Lippen geformt, nicht einmal das Atmen schien ihm groß von Bedeutung. Seine Augen wirkten müde. Seit neun Jahrzehnten waren sie in Betrieb, sie mussten schon alles gesehen haben, das größte Glück, das größte Leid, und nun Arle, den besten Freund, den er jemals hatte, wie er dort lag, so ohne Leben, das war nicht schön, und er fragte sich, ob Gott jetzt seine Gedanken lesen konnte, und wenn ja, ob er dafür in die Hölle käme.
    Kyell musste etwas sagen. Aber er konnte nichts sagen. Er versuchte es ohne Worte. Er blickte Linne an. Und Linne blickte ihn an. Auch das ging nicht. Nichts ging. Die Welt stand still, und um sie wieder in Gang zu setzen und weil Kyell einfach nicht wusste, wie er sich verhalten sollte, wie er zum Ausdruck bringen konnte, dass ihm das alles unendlich leid tue und er nie wieder gut werde schlafen können, sagte er, dass der Keks umsonst war.
    Seither hatte niemand mehr die Praxis aufgesucht. Nicht, dass sie zuvor als Hort der Geselligkeit Aufsehen erregt hätte, die meisten Einwohner kümmerten sich um die kleinen und größeren Wehwehchen ihrer Nutz- und Schoßtiere selbst, und auch ein notwendiges Einschläfern wurde in der Regel auf traditionelle Art und Weise geregelt. In Notfällen wurde angerufen und umgehender Hausbesuch erwartet. Und da Kyell nichts Wichtiges zu tun hatte, bestückte er den Notfallkoffer neu, es fehlten doch einige Dinge seit der letzten Steißgeburt. Gleitgel,
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