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Gretchen

Gretchen

Titel: Gretchen
Autoren: Einzlkind
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richtig?«
    Falsch. Wer Wörter wie geflasht benutzte, durfte nicht einmal auf eine Antwort hoffen. Gretchen Morgenthau schaute wieder aus dem Fenster und sah eine Gruppe junger Mädchen lautstark die Straße entlangpöbeln. Sie sahen aus wie Barbiepuppen in asozial. Ihre recht üppigen Bäuche trugen sie offen zur Schau, mit solcher Hingabe, dass einzig Bewunderung dem gedankenlosen Wagemut zu zollen war. Die Jugend ist ein Geschenk, dachte Gretchen Morgenthau, aber die Jugend sagt danke und legt es beiseite. Und Jahre später findet sie es im Keller in der Truhe der Erinnerungen wieder. Aber dann ist die Schleife nicht mehr so schön, und Pulsadern aufschneiden macht dann auch keinen Spaß mehr.
    »Na endlich«, sagte Jassir, der Taxifahrer, »es geht weiter. Wissen Sie was? Ich mag Sie irgendwie. Obwohl Sie alt sind und ich jung bin. Mein Onkel, er ist ein Prophet, müssen Sie wissen, sagt immer, es gibt gar keinen Generationenkonflikt. Es geht immer nur um Klug gegen Dumm, sagt er, und dass kluge alte Menschen kluge junge Menschen immer verstehen werden und großartig finden, genauso umgekehrt. Allerdings gibt mein Onkel zu bedenken, dass ein Großteil der Jugend dumm ist, was in ihrer Natur liegt, das Dumme aber ist, dass auch ein Großteil der Alten dumm ist, was nicht in ihrer Natur liegt. Verstehen Sie, was ich meine? Kluger Mann, mein Onkel, oder? Und um noch einmal auf mein Angebot zurückzukommen: In ziemlich genau zehn Minuten wird es enden, und es ist sehr wahrscheinlich, dass ein solches Angebot nie wieder in Ihrem Leben kommen wird, ja, vielleicht werden Sie eines Tages einmal denken, hätte ich damals doch nur zugegriffen, als sich die Gelegenheit bot, als dieser nette, coole, charmante, gut aussehende junge Mann, hey Motherfucker, pass doch auf, du Wichser, ist das hier eine scheißbeschissene Ampel oder was, Arschloch, haben Sie das gesehen, ja, verpiss dich bloß, du schwule Schwuchtel, ich fick dich in dein scheiß Gehirn, Entschuldigung, jetzt weiß ich nicht mehr, wo ich stehengeblieben bin, ach ja, und dann werden Sie, wie sagt man in Ihren Kreisen, sich grämen, ha, cooles Wort, grämen, Hammer, muss ich mir merken, wenn mein Babe mal wieder down ist, dann sag ich, gräm dich nicht, Babe, gräm dich nicht, whuaa, war das da gerade ein Eichhörnchen, haben Sie schon mal Eichhörnchen gegessen, wahrscheinlich schon, aber es geht hier ja nicht um Eichhörnchen, es geht hier um Geschäfte. Wie gesagt …«
    Gretchen Morgenthau hatte keine Wahl. Sie musste die Schlinge aus ihrer Handtasche nehmen, warten, bis der Wagen hielt, die Schlinge um den Hals des Opfers legen und einfach zuziehen. Denn die Frage war: Was sollte sie sonst tun?

6
    Der Betäubungspfeil wirkte sofort. Zur Überraschung aller. Es war ja nur eine grobe Schätzung. Oder auch reine Willkür. Kyells Ausbildung hatte das Thema Dosierung bisher nur am Rande gestreift. Er wusste, dass ein Anästhetikum aus Propofol und Fentanyl eine runde Sache war. Die genaue Einheit wusste er allerdings nicht. Woher auch? Es war seine erste Operation. Ein einziges Mal hatte er Tykwer bei einer Kastration zugeschaut, bei Jákups Bullen, und die meiste Zeit über hatte er so getan, als wäre ihm etwas ins Auge geflogen, ein Elefant oder so.
    Er hatte noch versucht, Tykwer zu wecken, denn er wollte es nicht sein, der Stalin kastriert, er wollte nicht in die Geschichte eingehen, er war doch noch viel zu jung für Geschichte. Also nahm er den Eimer mit Eiswasser und schüttete, und Tykwer öffnete seine glasigen Augen für die Zeitspanne von drei Sekunden, und in diesen drei Sekunden stammelte er die drei Worte: »Metamizol, hurra, superastrein.«
    Flehend sah Kyell aus dem Fenster, suchend, als fände er dort die Hilfe, die er sehnlichst herbeibeschwor. Aber er sah nur Linne. Linne auf dem Hügelkamm, der schweren Schrittes in Richtung Meer schlenderte. Seine restlichen grauen Haare zuselten im Wind bizarre Formationen. Mal sahen sie aus wie ein verlassenes Vogelnest, dann wieder wie ein Wischmopp voller Asche. Er zog den Bollerwagen hinter sich her. Der Bollerwagen war leer. Bis auf Arles Lieblingsdecke, die seitlich herüberhing und auf der Susi und Strolch Spaghetti aßen. Linne sah aus wie der traurigste Mensch der Welt. Und dann schaute der traurigste Mensch der Welt in Kyells Richtung, und obwohl fast hundert Meter zwischen ihnen lagen, trafen sich ihre Blicke millimetergenau. Ein Wunder, da Linne nahezu blind war, doch der Zorn verlieh ihm
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