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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang
Autoren: Stephan Thome
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erinnernden Turm und das Schieferdach des Gebäudes, das wie ein gekentertes Schiff über den grünen Wipfeln treibt.
    »Dann zurück zum Geschäftlichen. Rehsteig – da wohnt doch Daniels Mutter. Kennen Sie die? Kerstin … heißt sie noch Bamberger?«
    »Werner. Sie war bei Elternabenden ein oder zwei Mal.« Er sagt auch das mit Blick aus dem Fenster. Granitzny hat diese Art, Fragen zu stellen, die einen argwöhnen lässt, er kenne die Antworten selbst und wolle seinem Gegenüber nur auf den Zahn fühlen – diese Marotte allerdings erfüllt Weidmann nicht mit Unbehagen, sondern mit einem Anflug derselben Unerschütterlichkeit, die Granitznys Körperfülle ausstrahlt. Der muss schließlich nicht alles wissen. Wer sich zu tarnen versteht, braucht nicht Versteck zu spielen, so viel hat er gelernt in den letzten sieben Jahren, hat es auch zu Konstanze gesagt neulichund prompt zur Antwort bekommen: Ich weiß, dass du nicht glücklich bist. Aber du bist selbst schuld.
    Neun Uhr fünfundzwanzig verkündet die Uhr über der offenen Tür zum Sekretariat. Montag der fünfzehnte Mai, und die Sonne draußen erfüllt ihn mit einer Melancholie, wie es selbst der Bergenstädter Winter nicht vermag, trotz seiner Überlänge. Zum Teufel mit alldem, denkt er.
    »Sehen Sie, es würde jetzt von Ihnen erwartet, dass Sie sagen: Okay, mit der Mutter rede ich.« Granitzny hängt in seinem Stuhl, als wäre er beim Zahnarzt.
    »Was soll ich ihr sagen?«
    »Dass ihr Sohn … dass ihr Sohn sich zwar gewissermaßen artgerecht, aber unkorrekt verhalten hat an der Schule und dass wir uns Konsequenzen vorbehalten.«
    »Artgerecht?«
    Unerwartet behände richtet sich Granitzny auf und kommt dem Schreibtisch so nah, wie es sein Bauch gestattet. Seine Miene ist aufgeweckt jetzt, neugierig und lässt so etwas wie Vorfreude erkennen. Wahrscheinlich ist auch das ein Effekt der Jahreszeit und des plötzlich umgeschlagenen Wetters. Dem Rektor sitzt der Schalk im Stiernacken, und seit er nicht mehr raucht, erlaubt er sich manchmal, seinen Launen einfach nachzugeben.
    »Es würde mich interessieren, wie Sie als Sechzehnjähriger waren.«
    Einen Moment lang sehen sie einander in die Augen – Granitznys Tränensäcke könnte man für angeklebt halten, so schwer sind die – dann ruft Frau Winterlich aus dem Nebenzimmer:
    »Unauffällig. Hab seine Mutter nie klagen hören.«
    Weidmann nickt, sagt aber nichts. Unauffällig ist wahrscheinlich besser getroffen, als Frau Winterlich ahnt. Unauffällig passt.
    Granitzny lehnt sich wieder zurück, augenscheinlich unzufrieden.
    »Frau Winterlich, würden Sie uns zwei Kaffee bringen.«
    »Ich muss gleich los.« Weidmann zeigt auf die Uhr, um halb zehn gongt es, aber nicht mit Granitzny:
    »Sie haben eine Freistunde jetzt, wissen Sie das nicht?«
    Granitzny hat einen zusammengefalteten Liegestuhl neben dem Heizkörper stehen, und wenn das Wetter es zulässt, sieht man ihn nachmittags um fünf, wenn nicht einmal mehr der Hausmeister sich noch auf dem Schulgelände aufhält, im offenen Hemd vor dem Haupteingang sitzen und Zeitung lesen. An sechs Tagen in der Woche rollt sein silbergrauer Ford als Letzter vom Parkplatz, und am siebten gibt es dort sowieso keine anderen Wagen. Ohne Granitznys unermüdlichen Einsatz würde es nicht einmal das Schulgebäude geben, diesen zweistöckigen Neubau in den Lahnwiesen. Das hier ist Granitznys Schule, Genitivus possessivus ohne Abstriche.
    »Wenn ich mit ihr rede«, sagt Weidmann, »müsste ich aber präziser werden. Als Mutter wüsste man ja gerne, welcher Art die Konsequenzen sind, die wir uns vorbehalten.«
    »Wie schätzen Sie’s ein, ich meine: Ist doch kein Fall für einen Verweis von der Schule.«
    »Nein.«
    »Die Prügelstrafe ist abgeschafft, was bleibt noch?«
    »Eine ungemütliche halbe Stunde im Rektorzimmer.«
    »Seh ich kommen.«
    »Zu überlegen wäre, ob man die drei in verschiedene Klassen steckt.«
    »Da seh ich Probleme mit den Kollegen.«
    »Und ich glaube nicht, dass Tommy Endler der Einzige war, den sie … soll man ›Erpressung‹ sagen?«
    Mit einer Handbewegung wischt Granitzny das Wort beiseite.
    »Was mich interessieren würde: Warum macht der kleine Bamberger da mit? Sieht ihm doch nicht ähnlich, oder? Die beiden anderen hab ich schon häufiger zur Schnecke gemacht, aber Daniel Bamberger …«
    Frau Winterlich kommt mit zwei Kaffeetassen herein. Sie undGranitzny sind ein Fall für Cartoonisten: er der Elefant und sie mit dieser vogelhaften Art, den
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