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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang
Autoren: Stephan Thome
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Fleisches, das sie unter ihrem Griff und dem Stoff des Kittels fühlt.
    »Lass einfach«, sagt sie noch einmal und spürt ihr eigenes Lächeln auf dem Gesicht wie ein Spannen zu trockener Haut. »Du könntest ein paar Schritte im Garten … oder auf der Terrasse, du könntest dich ein bisschen bewegen in der Sonne.«
    »Der Doktor kommt heute Nachmittag, ja, und es ist noch nichts fertig.«
    »Mutter, es ist Montag.«
    »Hoffentlich verschreibt er mir was gegen mein schlimmes Bein. Und die Kopfschmerzen.«
    »Doktor Petermann kommt mittwochs, jeden ersten Mittwoch im Monat, und er war erst vorletzte Woche da. Heute kommt er nicht.«
    »Nicht?«
    »Nein.«
    »Wir könnten Hans fragen.«
    »Ist es wieder schlimm mit dem Bein?« Wie ein Loch im Boden hat sie die Frage vor sich gesehen und einen Schritt zur Seite machen und sagen wollen: Dein Bein braucht Bewegung, das ist alles. Die Kopfschmerzen, über die ihre Mutter neuerdings klagt, scheinen einer Art Rotationssystem anzugehören, in dem sich die schmerzenden Körperpartien abwechseln: Knie, Hüfte, Schulter, Kopf, und wieder von vorne. Nur das Bein tut angeblich immer weh.
    »Viel Schmerzen.«
    »Vielleicht braucht dein Bein einfach …«
    »Wir könnten Hans fragen.«
    »Am Telefon kann er dir nichts verschreiben. Außerdem ist jetzt Doktor Petermann dein Arzt.«
    »Der kommt ja nicht.«
    »Er war hier. Hast du ihn nicht gebeten, dir was zu verschreiben?«
    »Er hat meinen Blutdruck gemessen, ja.«
    »Ob du ihn nicht gefragt hast …?« Kerstin blickt in die wässrige Trübnis hinter dicken Brillengläsern, auf diesen Schleier aus Unverständnis, und sie wünscht, Hans könnte das einmal sehen, statt immer nur am Telefon zu befinden, seine Mutter höre sich großartig an. Kerngesund. Hans, der ihr beim Umzug dieses Lachen der Zuversicht ins Gesicht geschmissen und zum Abschied gesagt hat, so sei es das Beste für alle.
    »Nicht?«, wiederholt sie.
    Ihre Mutter steht nickend vor ihr, als würde sie im Geiste die nächsten Schritte proben, das Lösen der Hand vom Türrahmen, die halbe Körperdrehung, das Ergreifen der Türklinke.
    »Dann will ich mal mein Bett machen«, verkündet sie schließlich. »Falls der Pfarrer kommt, ja.«
    Kerstin sieht ihr nach, wie sie in ihrem Zimmer verschwindet, hinter einer Tür, die gezeichnet ist von den weißlichen Rückständen der vielen Aufkleber, die Daniel dort platziert hatte, als es noch sein Zimmer war. Der Raum besitzt ein großes Fenster zum Garten und Zugang zum Balkon, mit Blick über das Bergenstädter Tal und zum Himmel darüber, den Daniel jeden Abend durch sein Teleskop betrachtet hat. Von den beiden Kammern im Keller sieht er nur die Einfahrt und Meinrichs Hecke und bekommt mit, wenn nachts der Schemen des Alten im Milchglasfenster des Badezimmers steht: gestikulierend, schimpfend, seine Prostata verfluchend, aber der Himmel ist nichts als ein kleines Stück Nordosten zwischen Dachrinne und Hecke. Daniel hat es ihr gezeigt und die Schultern gezuckt: Darf ich vorstellen: Mein Anteil vom Besten für alle.
    ›Das Beste für alle‹ ist ein geflügeltes Wort geworden am Rehsteig 52.
    Sie geht ins Bad.
    Draußen fahren Autos vorbei, Kerstin duscht und bindet sich die Haare zum Pferdeschwanz, kippt das Fenster und putzt sich die Zähne, während Dunstschleier zum Fenster hinausziehen. Ein Stütz-BH in Fleischfarbe hängt über der Stange vor dem Heizkörper.
    Wie immer kommt es plötzlich. Einen Moment lang steht sie vor dem beschlagenen Spiegel, reißt die Augen auf und atmet tief durch, wie in der Küche beim Zwiebelschneiden. Da ist ein Pochen hinten im Hals, und das Geräusch ihres eigenen Atems kommt ihr vor, als stünde sie draußen auf einem weiten Feld. Trotz des offenen Fensters scheint der Dunst im Bad immer dichter zu werden. Den Blick auf ihre Füße gerichtet, zählt Kerstin die Sekunden. Wundert sich über die rätselhafte Präzision, mit der dieses Räderwerk der Erinnerung in ihr arbeitet und in zwei Umdrehungen den Sprung in ein anderes Bad schafft. Manchmal reicht ein fleischfarbener Stütz-BH aus, um alles insRollen zu bringen. Anita hat Recht, sie muss weg hier. Und langsam atmen. Warten. Sie schaut in den Spiegel, als ob sie ihren Sohn darin sähe, in jenem anderen Bad, an das sie sich nicht erinnern will und das jetzt sowieso anders aussieht. Man nimmt den Mann, wie er ist, aber das Bad räumt man um. Nur Daniel sieht sie, der nach einem schwarzen Teil greift, es am einen Ende baumeln lässt und
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