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Grenzgang

Grenzgang

Titel: Grenzgang
Autoren: Stephan Thome
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die zwei Körbchen betrachtet, die sich wie eine Atemmaske auf Mund und Nase legen lassen. Ein jugendlicher Akt der Neugierde. Das Gefühl von Seide zwischen den Fingerspitzen. Langsam verzieht sich der Dunst vor ihrem Spiegel und sagt ihr, wie es ist: vierundvierzig Jahre und allein. Sie hat gelernt, ihre Tränen zurückzuhalten, aber Fragen gibt es, die müssen gestellt werden: Weiß ihr Sohn, wie die Frau riecht, die ihr Exmann v-ö-g-e-l-t? Und Tage gibt es, da glaubt sie den Verstand zu verlieren, wie im Handumdrehen, als hätte sie nie einen besessen.

    * * *

    Sie sitzen einander gegenüber in Granitznys Büro und sprechen mit langen Pausen, in denen sie sich mustern wie Gegner vor dem Kampf. Immer ist das so, selbst wenn sie übers Wetter reden, und dann spürt Weidmann sich mit durchgedrücktem Rücken im Besucherstuhl sitzen, die Unterarme auf die Lehnen gelegt, waagerecht wie sein Blick. Jedes Mal denkt er das Gleiche: Der Schulleiter sieht aus wie eine Mischung aus Buddhafigur und einem Operntenor im Spätherbst seiner Karriere. Nicht nur sein Körperumfang, auch die zu lange nicht geschnittenen und zu oft nicht gewaschenen Haare passen dazu, der speckige Kragen seines Jacketts und – wenn er es auszieht – die Schweißflecken unter den Armen; aber das Merkwürdige ist: Das Aussehen tut seiner Autorität keinen Abbruch, beinahe im Gegenteil. Granitzny ist respekteinflößend fett, man glaubt an ihm etwas von diesen Machtgürteln wahrzunehmen, die sich kiloweise um gewisse Politiker legen im Lauf der Jahre. Manche Männer sinddick, so wie Bäume Rinde haben, und Granitzny ist zwar kein Politiker, aber eine Witzfigur schon gar nicht. Selbstsicherheit und Unerschütterlichkeit strahlt er aus, wenn er sich wie jetzt im Schreibtischstuhl zurücklehnt, bis die Knopfleiste seines blauen Hemdes in Hochspannung gerät und die Krawatte auf seinem Bauch liegt wie eine schlafende Katze. Äußerlichkeiten sind dem Rektor des Städtischen Gymnasiums Bergenstadt nicht nur egal, er nimmt sie erst gar nicht zur Kenntnis. Weidmann weiß nicht warum, aber Granitzny erinnert ihn an Schlegelberger. Erinnert ihn an den Alten mit einer Beharrlichkeit, wie es nur bei Ähnlichkeiten der Fall ist, die nicht sofort ins Auge springen.
    Schlegelberger war hager, zum Beispiel, und ist es wahrscheinlich noch.
    »Was halten Sie von der Sache?«, fragt Granitzny schließlich aus der Tiefe seines Stuhls. »Kommt Ihnen das nicht komisch vor?«
    »›Komisch‹ wäre nicht mein Wort«, sagt Weidmann. »Nicht, wenn so was in meiner Klasse passiert.«
    »Ausgerechnet Daniel Bamberger und ausgerechnet Tommy Endler, das meinte ich. Nicht ›komisch‹ komisch, sondern: merkwürdig. Unerklärlich.« Ununterbrochen sieht Granitzny ihn an, und wie immer fühlt Weidmann sich unbehaglich, wenn er so taxiert wird, egal ob damals von Schlegelberger oder jetzt von seinem Chef. Egal von wem. Er beschränkt sich auf ein Nicken und sieht nach draußen auf den Schulhof: Oberstufenschüler lungern auf den Rondellen herum, ein paar schlendern unauffällig Richtung Fahrradständer, um zu rauchen. Die Sonne scheint auf den Ort, auf die Straßenzüge und Häuser, die wie die Reihen eines riesigen Amphitheaters im Morgenlicht liegen. Zum ersten Mal in diesem Monat entspricht das Wetter dem Kalender, sieht der Mai nach Mai aus. Ein grüner Ring aus Bäumen schließt den Ort ein und umläuft das Tal, zieht sich von Hügel zu Hügel und durch den gesamten Landstrich, der nicht ohne Grund ›Hinterland‹ heißt.
    Man könnte bis Kassel wandern, vier oder fünf Tage lang, ohne einmal aus dem Schatten der Bäume zu treten.
    »Wie auch immer. Mit dem Vater, Jürgen Bamberger, bin ich gut bekannt, wie Sie wissen, und den werde ich heute Vormittag mal einbestellen. Kennen Sie einander eigentlich?«
    »Wie man sich so kennt hier.«
    Granitzny nickt und gestattet seinen Gedanken eine kleine Abschweifung. Weidmann erkennt es an seinem Blick.
    »Sie sind in keiner Gesellschaft, oder?«
    »Ab und zu geh ich zum Rehsteig. Selten.«
    »Kein Grenzgänger.«
    »Kein echter.«
    »Dabei ist Ihr Vater mal zweiter Führer gewesen. Einundsiebzig?«
    »Einundsiebzig.«
    »Nicht Ihr Niveau, nehm ich an.«
    »Nein.«
    Wahrscheinlich redet sonst kein Kollege so mit Granitzny, aber dem imponiert es, wenn einer schon mal an der Universität unterrichtet hat, darum quittiert er die Antwort nur mit einem Nicken. Man sieht das Schloss vom Rektorzimmer aus, den runden, an die Schachfigur
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