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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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wartete nicht auf das grüne Licht. Ich überquerte die Kreuzung der Bergmanngasse mit der Parkstraße und der Glacisstraße schräg. Ich beeilte mich, dann bekam ich nicht die Chance, es mir anders zu überlegen.
    Auf der anderen Seite drehte ich mich noch kurz um. Die drei Fenster gaben noch immer Licht. Ich fand, dass sie für den gesamten Geidorfplatz brannten, dass ich das nicht früher bemerkt hatte. Hinter den Rollos würde das Licht wahrscheinlich noch die ganze Nacht an bleiben. Da wurde auf jemanden gewartet.
    Ein Mann kam mir entgegen. Er überquerte die Straße, anständig über den Zebrastreifen, und sah zu mir. Er schaute mich an – soweit es möglich ist, jemanden schon aus einer großen Entfernung anzuschauen. Seine Augen waren hell, das Weiß der Augen sauber, die Augenbrauen dunkel und dicht.
    Er ließ mich nicht los mit seinem Blick. Er lief haarscharf an mir vorbei, und fing mich mit seinem Geruch. Schamlos blickte er über seine Schulter. Er drehte sich im Gehen um und machte ein paar Schritte rückwärts, wobei er seine Hände in meine Richtung ausstreckte und breit grinste. Natürlich waren seine Zähne sehr weiß. Er hatte noch nie etwas von Erröten gehört. Er freute sich, dass auch ich ihn ansah.
    Nicht die ganze Welt gehörte ihm. In der Maria-Theresien-Allee rüttelte er an der Tür des Jugendstilpavillions. Die Toiletten waren zu dieser Zeit geschlossen. Er blickte in meine Richtung und dachte nach. Er nahm eine Haltung ein, die ich las als: Worauf wartest du?
    Danach wich er ohne mit der Wimper zu zucken vom Fußweg ab. Er lief über die verschneite Grasfläche, in die Sträucher und die Dunkelheit hinein.
    Ich weiß nicht, wie lange ich nicht geatmet habe.
    Ich habe einmal an einem Sonntag einen Spaziergang gemacht, den ich mit einer Tasse Kaffee auf der Terrasse des Aïola abschloss, dem Café, das im Schatten des Uhrturms liegt. Ich war dick eingepackt und müdegelaufen, ich hatte Stiefel an, weil es ein sonniger, aber kalter Tag war und es die ganze vorhergehende Woche geregnet hatte, sodass jeder überall in der Stadt Schlammspuren hinterließ. Ich hatte einen angenehmen Spaziergang, ich hatte an wenig gedacht.
    Als ich mich auf die Terrasse in die Sonne setzte und einen Kaffee bestellte, fiel mir an einem Tisch ein Mann auf, der auf seiner Zunge kaute. Sein Kinn bewegte sich, seine Lippen kneteten, und ich blieb mit meinem Blick an den Bewegungen seines Kiefers hängen, da ich davon überzeugt war, dass er das Kauen spielte. Gleich würde er seiner Freundin die Innenseite seines Munds zeigen. Haha, leer.
    Aber es war kein Witz. Er lehnte auf einem Ellenbogen, saß schief auf seinem Stuhl, hielt seine Beine breit, und fand, dass Kauen zu einem Mann gehörte, so wie die große Handtasche zu seiner blondierten Freundin.
    Ich kann die Physiognomie einer Person sehr spannend finden. Ich beobachte die Bewegungen eines Kiefers und stelle mir den Kieferknochen und den Knorpel und das Kiefergelenk und das Gewebe und die Muskeln vor.
    Ich dachte: Fleischfresser.
    Ich erinnere mich, dass mein Kaffee gebracht worden war. Ich weiß, dass ich bezahlt hatte. Ich weiß, dass mir nicht klar war, wie lange ich ihn schon ansah. Ich weiß, dass ich ihn zu seiner Freundin sagen hörte, dass er gleich jemandem die Visage polieren wollte, und ich erinnere mich an den Moment, als es zu mir durchdrang, dass er mein Gesicht meinte.
    Er nannte mich Schwuchtel. Die ganze Terrasse hörte, was er sagte, aber es gab niemanden, der reagierte. Die ganze trendy Terrasse trank Kaffee und saß in der Sonne, während ich starb. Ich überlegte nach drinnen zu gehen und den Ober zu warnen. Ich würde gleich jemanden herausfordern. Ich würde danach fragen, ins Gesicht geschlagen zu werden. Schlimm genug, der Sohn meines Vaters zu sein. Ich habe gelernt jederzeit für Ausgleich zu sorgen, den Nullpunkt zu bewachen, wenn es sein muss, sogar zum Rückzug zu blasen.
    Ich verbrannte mir die Kehle am Kaffee, zog meine Jacke und meine Handschuhe wieder an und ging in einer geraden Linie von der Terrasse ab, Richtung Kriegssteig, den ich eigentlich nicht vorhatte zu nehmen, und minutenlang fürchtete ich mich, dass der Mann, der auf seiner Zunge kaute, mir noch nachkommen würde. Unterwegs sah ich Unfälle passieren. Ich fiel tief. Ich fiel und fiel.
    Minutenlang zeigte das dunkle Gestrüpp neben dem Jugendstilpavillon eine leere Stelle. Als ich meine Augen schloss, sah ich den Mann, der sich geradeeben noch nach mir
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