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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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umgesehen hatte, wieder grinsen. Ich sah seine guten Zähne, seine hellen Augen, seine dunklen, vollen Augenbrauen. Eine Zeitlang zählte ich die Minuten. Meine Beine zitterten.
    In einem Moment, den ich nicht vorhersah und als ich es auch nicht mehr erwartete, stellte er sich wieder ins Licht, mitten in die Sträucher. Er sah in meine Richtung. Er fragte nicht, wo ich bliebe, er rief es mit seinem ganzen Körper. Hinter dem Wäldchen befindet sich das Kunstwerk von Ertl. Das sind ein paar Betonblöcke plus der Rumpf einer Frau, ich muss es sagen, wie es ist. Es gibt Kunst, die ich nie begreifen werde. Aber ich dachte: Vielleicht ist das schön im Schnee.
    Ich kann viel erzählen, und ich würde nie lügen, aber wenn es um mich geht, finde ich es nicht leicht, alles anzusprechen.
    Ich setzte den ersten Schritt noch bevor ich bedacht hatte, dass Schauen nichts Böses war.
    Ich ging über die Wiese, neben den Fußstapfen, die da schon standen, und war überrascht, wie hell es um mich herum blieb. Die letzten Zweige, die mich noch zurückhielten, drückte ich weg und kam an einer Stelle heraus, wo viele Sorten Schwarz und Grau und Weiß waren.
    Der Mann kam langsam auf mich zu. Seine Schultern hochgezogen, seine Hände saßen in seinen Taschen. Mit ein paar Metern Abstand von mir blieb er stehen. Er sagte, dass es vielleicht sonderbar sei, was er sagen werde, aber dass es eine Tatsache sei, dass wir nicht in die Welt gesetzt wurden, um allein zu sein. Menschen sollten Kontakt zueinander suchen. Menschlicher Kontakt schien ihm wichtig.
    Wenn man ein Wort zweimal verwendet, will man etwas betonen, dachte ich. Ich gab ihm recht. Ich nickte.
    Ich versuchte alles, um seinem Blick auszuweichen. Ich fegte den Schnee vor meinen Füßen weg, dachte oft, etwas in der Ferne zu sehen, grub eine Mulde, um darin zu verschwinden.
    Er fragte, wie ich hieße.
    Ich sagte, dass es nicht wichtig sei, wie ich hieße.
    „Nein“, sagte er. „Nein. Aber ich glaube, du hast einen schönen Namen.“
    Sehr witzig. Touché.
    Ich sagte: „Wie heißt du?“
    Er machte seinen Rücken gerade und grinste. Er lief an mir vorbei, so wie er das vorhin an der Kreuzung getan hatte, und berührte wie zufällig den Rücken meiner Hand. Er verschleierte nicht, dass er es schön fände, wenn ich ein paar Schritte mit ihm ginge. In die Dunkelheit hinein, aber keine Sorge: Bei ihm war ich sicher.
    Ich denke gerne, dass ich Erfahrung mit Menschen habe. Dass ich ihre Sprache kenne. An ihren Augen sehe, ob ihr Herz eine Schlangengrube ist.
    Wir kamen an der Nepomukkapelle vorbei.
    Jeder erinnert sich an eine Stelle, wo mit vier nichts Besonderes passiert ist, und doch sieht man den hohlen Baum noch vor sich, den Sarg auf der Kutsche, den Tunnel unter den Geleisen, wo man laut schreien musste, während der Zug über einen hinwegfuhr.
    Ich spielte bei der Nepomukkapelle. Die Bank, wo meine Mutter auf mich gewartet hatte, steht da nicht mehr. Die Bank hatte Platz gemacht für ein Monument zu Ehren von Jahn. Monument ist das schöne Wort, Pfahl ist die Wahrheit. Der Mann lehnte sich mit seinen Schultern dagegen. Er schaute auf die Sportplätze hinter den Zäunen. Darüber brannten starke Lampen. Dort arbeiteten die Leute tagsüber an Ihrem Seelenglück.
    Er wusste, dass das Licht auf sein Gesicht fiel. Er schloss seine Augen und gab mir die Chance ihn anzusehen. Dann gab ich ihm die Chance mich dabei zu ertappen. Schon nach ein paar Sekunden schaute er aus seinen Augenwinkeln, wo ich blieb, und er grinste, versetzte sein Bein, kippte sein Becken, drehte seinen Oberkörper. Mit seinen Händen strich er über seine Brust, über seinen Bauch.
    Ich blieb stehen, wo ich meine Füße abgestellt hatte. Wenn ich meinen Arm einmal hochheben würde, dachte ich.
    Er sagte freundlich: „Komm nur.“
    Ich sagte: „Ja“, und ich zeigte mit meinem Kinn zu dem Pfahl, gegen den er sich lehnte. Ich fragte, ob er Jahn kenne, den Turnvater.
    „Jetzt komm aber“, sagte er.
    „Ja“, sagte ich, und ob er wisse, welch lächerliche Dinge der Mann gesagt habe. „Wenn du deiner Tochter Französisch lehrst, kannst du ihr genauso gut lehren, wie sie Hure wird. Eltern, die Ihrem Kind einen fremden Namen geben, machen ihr Kind zu einem Bastard.“
    „Das klingt intelligent. Komm.“
    Ich sagte: „Ja. Und trotzdem hat er ein Monument bekommen.“
    „Und jetzt haben wir etwas, um uns anzulehnen“, sagte er, und er ließ sich nach hinten fallen, streckte seine Hände nach oben, sodass
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