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Graz - Novelle

Graz - Novelle

Titel: Graz - Novelle
Autoren: Luftschacht-Verlag <Wien>
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oder zusammen bei Tisch. Die drei waren am liebsten tagelang zusammen, und wenn es möglich war, gingen sie ineinander auf, so wie man das unbedingt tun muss, wenn man zwanzig ist. Wahrscheinlich teilten sie sich ein Stockwerk in so einem Bürgerhaus am Geidorfplatz, mit Zimmern und Suiten, wo sie Feste organisierten und sich betranken und ineinander verschlungen einschliefen.
    Dann dachte ich wieder an die Bedeutsamkeit der Liebe und des Blutes. Ganz von alleine befand ich mich plötzlich beim Telefon im Zubereitungsraum und ich war dabei, mich abzumessen, ein lächerlicher Anblick für jeden. Ich rief auch das Landeskrankenhaus an und führte ein bizarres Gespräch.
    Ich starrte weiterhin, mit den Händen auf der Fensterbank, auf die dunkle Straße. Das Licht in dem Zimmer des Parkhotels ging an. Der Mann von gegenüber schloss nackt die Gardinen.
    Die Hertz Mädchen kamen den Gehsteig entlang. Sie sagten nichts zu mir, da sie mich nicht mochten, das stellte sich nun heraus.
    Der rothaarige Junge stieß die Tür vor meiner Nase zu. Jeder neue Gedanke brach einen anderen neuen Gedanken los. Die Mehrzahl zeigte mir etwas, das mich zum Nachdenken brachte, der Rest war problematisch, um nicht zu sagen unüberwindbar.
    Ich war nicht fertig mit dem Tag. Ich würde heute Nacht das Licht im Lagerraum meines Gehirns nicht ganz ausmachen können. Die Betriebsamkeit in meinem Kopf ging weiter und führte ins Nirgendwo. Es kam keine Ordnung ins Chaos. Im Gegenteil: Das Durcheinander dehnte sich nur noch weiter aus. Meine Arme waren mir dauernd im Weg, meine Beine fanden nirgends einen Platz, wo sie gerne lagen. Immer juckte irgendwo ein Insekt, kitzelte etwas, da war ein Fuß, der sich benahm, als wäre er nicht meiner. Auf einmal hörte ich mich selbst reden. Ich flüsterte nicht, ich sagte vor dem ganzen Zimmer: „Ich sollte einmal weinen.“ Meine Worte waren noch nicht kalt, da fühlte ich eine Hand auf meinem Rücken. Ich wurde wie ein Hund gestreichelt. Das Bett trug mich, aber ich sank tiefer ein als vorher. Ich drückte die Hände in meinen Schoß. Mein Kopf fühlte sich an, als ob er auf einmal schwerer auf den Kissen lag, meine Augen sahen die Dunkelheit kommen. Das war die Wirkung von Hoggar Night.
    Vielleicht schlief ich ein paar Minuten. Vielleicht länger. Ich wurde mit Schwielen auf meiner Seele wach. Das war mein erster Gedanke: Ich habe Schwielen auf meiner Seele. Die Schwielen sind nicht von einem Tag auf den anderen gekommen, sie sind gewachsen, und das ist schrecklich. Im nächsten Moment war ich hellwach. Ich stützte mich auf die Ellenbogen und erinnerte mich, dass ich gerade eben, im Halbschlaf, an den Mann gedacht hatte, der zu Beginn der Woche in die Apotheke gekommen war, um zu erzählen, wie die letzten Monate seiner Frau verlaufen waren. Mein Atem stockte kurz, als ich an ihn dachte – und an die Art, wie ich vor ihm gestanden war.
    Da er den Kummer um ihren Tod noch nicht verarbeitet hatte, war schon während der Erzählung die Konzentration auf seine Tränen und die Fakten gerichtet. Er trug nichts dazu bei, die Geschichte spannend zu machen. Und dann und dann und dann, sagte er zu mir, während er sich an meinem Verkaufspult festhielt. Nichts war neu. Ich war schon lange darüber informiert: Ich wusste von den ersten Medikamenten und der ersten Operation, ich wusste von der Transplantation und den Folgen davon. Aber der Mann fuhr fort: und dann und dann und dann. Am Ende starb seine Frau, das war keine Überraschung.
    Ich erinnerte mich an meine Antwort und schüttelte verschämt den Kopf, als ich daran zurückdachte.
    „Ja gut“, sagte ich zu ihm. „Und dann?“
    Wenn man fortwährend von Elend hört, wogegen man nichts machen kann, muss all das Elend, das man gespeichert hat, in einem gewissen Moment irgendwohin. Die Gallenblase liegt unter der Leber, aber das Elend liegt darauf. Immer dicker darauf. Es gibt nichts, das so laut jammert wie das Elend.
    Mein Problem ist, dass ich viel nacherzählen kann, aber nicht alles, wenn es um mich selbst geht. Nach dem Unfall von Jochen Jonathan Erhart bin ich in meinem Bett gelandet und sehr lange bin ich nicht liegen geblieben. Mitten in der Nacht saß ich wieder aufrecht da und zog die Hose mit vorsichtiger Hand unter der Brieftasche weg. Ich passte auf, dass nichts vom Stuhl herabglitt. Meine Hose legte ich über meine Beine auf das Bett, als ob sie da zufällig hingekommen wäre.
    Ich hörte meinem Herzen zu, und sagte: „Hör mal.“ Mein
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