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Grau - ein Eddie Russett-Roman

Grau - ein Eddie Russett-Roman

Titel: Grau - ein Eddie Russett-Roman
Autoren: Eichborn-Verlag
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wäre allein meiner Farbe geschuldet, dann hatte ich mich geirrt. Unter meinem Roten Farbpunkt trug ich ein Abzeichen: ›Muss sich in Demut üben‹. Es bezog sich auf einen Zwischenfall mit dem Sohn des Oberpräfekten, und ich war dazu verurteilt worden, es eine Woche lang zu tragen. Wäre die Grüne Frau etwas gemäßigter gewesen, hätte sie mich wegen des ›1000 Meriten‹-Abzeichens, das ich ebenfalls trug, gleich wieder von dem Auftrag entbunden. Aber vielleicht war ihr das egal, vielleicht hatte sie einfach nur Appetit auf Marmelade.
    Ich holte das Glas von der Anrichte, brachte es ihr, nickte respektvoll und widmete mich wieder meiner Postkarte. Sie zeigte Zinnobers alte Steinbrücke, und der Himmel war gegen einen Aufpreis von fünf Cent hellblau übertüncht worden. Für zehn Cent hätte ich zusätzlich noch grün gefärbtes Gras bekommen können, doch die Karte war für meine zukünftige Verlobte Constance Oxblood gedacht, und die fand Übercolorierung vulgär. Die Oxbloods waren eindeutig alter Farbadel und zogen, wenn eben möglich, gedämpfte Töne vor, obwohl sie es sich hätten leisten können, ihr Haus in der höchsten Farbsättigung streichen zu lassen. Ihnen erschien vieles vulgär, dazu gehörten auch die Russetts, die sie als nouveau-couleur betrachteten. Daher mein Status als ›potentieller Verlobter‹. Mein Vater hatte ihnen ein, wie wir sagen, ›halbes Versprechen‹ abgerungen: Es bedeutete, dass ich erste Option für Constance war. Die Vereinbarung beruhte nicht auf Gegenseitigkeit, war aber trotzdem ein gutes Geschäft, ein Zugeständnis, denn obwohl nur ein rostroter Russett und vor drei Generationen noch Grau, war der Rotanteil in meiner Farbwahrnehmung möglicherweise sehr viel höher als angenommen, folglich durfte ich nicht einfach übergangen werden.
    »Schreibst du an Fischgesicht?«, fragte mein Vater schmunzelnd. »So schlecht kann ihr Gedächtnis doch nicht sein, dass sie dich schon vergessen hat.«
    »Stimmt«, räumte ich ein, »allerdings ist trotz ihres Namens Konstanz nicht gerade ihre hervorstechendste Eigenschaft.«
    »Verstehe. Schwirrt Roger Marone noch um sie herum?«
    »Wie die Fliege um die Aasblume. Und bitte nenn sie nicht Fischgesicht.«
    »Mehr Butter«, sagte die Grüne Frau, »und trödel diesmal nicht rum.«
    Wir frühstückten zu Ende, packten rasch unsere Sachen und gingen hinunter zur Rezeption. Mein Vater wies den Portier an, unsere Koffer zum Bahnhof bringen zu lassen.
    »Ein herrlicher Tag«, sagte der Geschäftsführer, als wir unsere Rechnung bezahlten. Er war ein dünner Mann mit einer edel geformten Nase, und er hatte nur ein Ohr. Der Verlust eines Ohrs war nicht ungewöhnlich, da Ohren unerfreulicherweise leicht abzureißen waren, ungewöhnlich war vielmehr, dass er es nicht wieder hatte annähen lassen, eine relativ einfache Prozedur. Noch weit interessanter war, dass er sein Blaues Farbkennzeichen oben am Kragenaufschlag trug, was als inoffizielles, wenn auch allgemein akzeptiertes Signal galt, dass er unter der Hand ›etwas organisieren‹ konnte, gegen Entgelt versteht sich. Wir hatten zum Abendessen Langusten bestellt, und er hatte sie nicht aus dem Bezugsscheinheft ausgestanzt. Es hatte uns eine halbe Merite gekostet, die wir dezent in die Serviette gewickelt hatten.
    »Jeder Tag ist ein herrlicher Tag«, antwortete mein Vater munter.
    »Ja, das stimmt«, sagte der Geschäftsführer freundlich, während wir unser Feedback austauschten. Feedback für das Hotel, weil es sauber und einigermaßen komfortabel war, und Feedback für uns, weil wir dem Haus keine Schande bereitet hatten, weder durch schlechte Tischmanieren noch durch lautes Reden in öffentlichen Räumen. »Haben Sie es noch weit heute Morgen?«
    »Wir fahren nach Ost-Karmin.«
    Schlagartig änderte sich das Verhalten des Blauen. Er sah uns merkwürdig an, gab uns die Meritenbücher zurück, wünschte uns eine frohe, möglichst ereignislose Zukunft und wandte sich rasch einem anderen Gast zu. Wir bedachten den Portier mit einem Trinkgeld, bestätigten uns gegenseitig noch mal die Abfahrtszeit des Zuges und machten uns auf den Weg zur ersten Station unserer Sightseeingtour.
    »Hm«, ließ sich mein Vater vernehmen, nachdem wir unsere zehn Cent gespendet und das etwas heruntergekommene, aber saubere Kartenhaus betreten hatten und nun die Schlecht Gezeichnete Karte betrachteten. »Ich werde daraus nicht schlau.«
    Die Schlecht Gezeichnete Karte war eigentlich nichts Besonderes, doch
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