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Grappa und die Toten vom See

Grappa und die Toten vom See

Titel: Grappa und die Toten vom See
Autoren: G Wollenhaupt
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Wiesenthal Center vermutet, dass er entweder rechtzeitig untertauchen konnte oder in den letzten Kriegstagen getötet wurde.«
    Kleist schickte mir die Datei. Spät am Abend las ich den Brief, den Samuel Cohn kurz vor seinem Tod an seinen Bruder Leon geschrieben hatte:

    Wir sind voller Sorge, denn wir wissen nicht, was passieren wird. Werden wir ausreisen können? Werden wir unsere Lieben je wiedersehen? Meine liebe Frau Miriam ist krank vor Sorgen und Angst und ich kann ihr keinen Trost geben, denn auch ich bin hilflos. Man hat uns in diesem Hotel in einem Zimmer eingesperrt, zusammen mit dreizehn anderen Glaubensbrüdern. Ich habe verlangt, den kommandierenden Offizier Steiger zu sprechen. Als Antwort schlug mich ein Soldat ins Gesicht – und das im Beisein von Benjamin. Mein Herz brach und ich schämte mich.
    Gestern wurde ich dann zum Verhör geholt. Ich war mit dem SS-Hauptsturmführer Steiger allein. Er versprach, uns in die Schweiz zu helfen – wir müssten aber dafür bezahlen. Ich war verzweifelt und verriet ihm, wo die Diamanten und die Kontonummern versteckt sind. Jetzt weiß ich, dass es ein Fehler war. Niemals wird uns dieser Steiger helfen. Wir sind verloren. Gott schütze dich, mein lieber Bruder.
    Persilscheine und Zigarettenkippen
    Als ich mich zum Frühstück begab, fühlte ich mich wie zerschlagen. Cohns verzweifelte Worte hatten mich kaum schlafen lassen. Ich habe ein solches Glück, dachte ich, nicht in diese schreckliche Zeit geboren worden zu sein.
    Friedemann Kleist löffelte einen Obstsalat, Wayne gabelte den Speck vom Spiegelei.
    »Wie siehst du denn aus, Grappa?«, rief er. »Warst du gestern Nacht noch ohne uns an der Bar?«
    Ich setzte die Sonnenbrille auf. »Mir ist ganz elend zumute. Die Erde hier ist mit Blut getränkt und alle denken nur an Sonne, Ausflüge, Fressen und Saufen. Und als ob die Geschichte von damals nicht schon schlimm genug wäre – das Morden geht weiter und schon wieder sind Menschen jüdischer Abstammung betroffen – die Mahlers und David Cohn.«
    »Trink erst mal einen Kaffee«, lächelte Kleist. »Du kannst das alles nicht ungeschehen machen.«
    »Ich weiß. Aber ich kann darunter leiden. Und ich will darunter leiden. Vielleicht waren meine Vorfahren auch an solchen Taten beteiligt! Ich hab mich nie damit beschäftigt und weiß es deshalb nicht. Was war denn mit deinen Leuten vor siebzig Jahren, Wayne? Was haben die gemacht während des sogenannten Dritten Reiches?«
    Der Bluthund guckte verblüfft. Ich ging zum Buffet und pickte zwei kleine Brötchen.
    »Mein Opa war in Russland«, gestand Wayne, als ich wieder am Tisch saß. »Er hat oft nach ein paar Bier davon geredet. Dass alles gar nicht so schlimm gewesen sei, wie es heute dargestellt wird. Und wenn er noch mehr Schnäpse intus hatte, brüstete er sich damit, wie er’s den Russen gezeigt hat.«
    »Na, siehst du.« Ich löffelte den Honig auf mein Brötchen. »Hat er dir auch erzählt, wie viele Feinde er erledigt hat?«
    »Nein. Als Junge interessierte mich das nicht. Das waren für mich eher langweilige Geschichten.«
    »Und wie war das in deiner erlauchten Familie, Herr Hauptkommissar?«
    »Führst du gerade ein Entnazifizierungsverhör durch?«, kam es zurück.
    »Nein, ich verteile keine Persilscheine, müsste diese Fragen aber dringend mal für meine eigene Familie klären. Also – wie haben sich die von Kleists während der Naziherrschaft verhalten?«
    »Da wir eine große Sippe sind, haben sich manche schuldig gemacht, wieder andere haben ihr Fähnchen nach dem Wind gehängt und vom Regime profitiert. Aber es gab auch Kleists, die im Widerstand aktiv waren und hingerichtet wurden.«
    »Wichtig ist für mich nur, dass ich niemandem etwas Böses antue«, meinte Wayne. »Ich bin nur für mich und meine Moral verantwortlich.«
    »Es gibt nur individuelle und keine kollektive Schuld«, nickte ich. »Der Meinung bin ich ja auch. Aber man sollte sich bewusst machen, wie schnell die äußeren Umstände jemanden schuldig machen können. Schau dir die Leute hier an: Auch einige ihrer Vorfahren sind Täter, haben den Nazis verraten, wo sich Juden versteckt hatten. Siebentausend Juden wurden von Norditalien aus ins KZ gebracht, etwa achthundert haben überlebt.«
    »Nicht so laut, Grappa!«, zischte Wayne. An den Nebentischen waren die Gespräche verstummt. Peinlich berührte Blicke trafen mich.
    »Du hast vollkommen recht, Maria«, sprang mir Kleist zur Seite. »Doch das Leben ist weder schwarz noch
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