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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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Schwimmweste um, die er ihr hinhielt. Während sie es sich auf der Sitzbank bequem machte, bemerkte sie Kisten voller Lebensmittel und ein Bündel Zeitungen mit dem Boston Globe obenauf. Offenbar hatte der Junge die Abholfahrt gleich zum Einkaufen genutzt.
    Als er den Motor anwarf, fragte sie: »Wie lange arbeitest du schon in der Lodge?«
    »Mein ganzes Leben. Meine Eltern sind die Besitzer.«
    Sie sah sich den Jungen genauer an. Markanter Unterkiefer, sonnengebleichtes Haar. Er war gebaut wie ein Rettungsschwimmer – schlank, aber muskulös; ein junger Mann, der auch gut an einen kalifornischen Strand gepasst hätte. Er schien vollkommen in seinem Element zu sein, als er das Boot vom Anleger wegsteuerte. Bevor sie ihm noch weitere Fragen stellen konnte, flogen sie bereits über das aufgewühlte Wasser, und bei dem lauten Motorgeräusch war an keine Unterhaltung zu denken. Sie hielt sich am Dollbord fest und blickte hinaus auf dichte Wälder und über den See, der sich wie ein weiter Ozean vor ihnen erstreckte.
    »Es ist wunderschön hier«, sagte sie, doch er hörte es nicht; seine Aufmerksamkeit war auf ihr Ziel am gegenüberliegenden Ufer gerichtet.
    Als sie dort ankamen, senkte die Sonne sich bereits auf den Horizont und tauchte die Wasserfläche in flammendes Gold. Sie sah mehrere Kanus am Strand liegen; dahinter erhoben sich rustikale Hütten. Am Anleger stand ein flachsblondes Mädchen bereit, um die Leine aufzufangen. Sobald Jane das Gesicht des Mädchens aus der Nähe sah, wusste sie, dass die beiden Geschwister waren.
    »Dieser Nichtsnutz hier ist Samantha«, erklärte Will, lachte und verwuschelte zärtlich die Haare der Kleinen. »Sie ist unser Mädchen für alles hier. Wenn Sie eine Zahnbürste brauchen oder zusätzliche Handtücher oder was auch immer, wenden Sie sich einfach an sie.«
    Während das Mädchen mit der Tasche ihres Gastes den Pier hinaufrannte, sagte Jane: »Sie sieht aus, als wäre sie acht oder neun. Geht ihr beide nicht zur Schule?«
    »Wir werden zu Hause unterrichtet. Im Winter ist es zu schwierig, in die Stadt zu kommen. Mein Vater sagt immer, dass wir die glücklichsten Kinder der Welt sind, weil wir hier draußen im Paradies leben dürfen.« Er ging den Weg voran zu einer der Hütten. »Mom hat die hier für Sie reserviert. Da sind Sie ganz für sich.«
    Sie stiegen die Stufen zu der mit Fliegengitter geschützten Veranda empor, und die Tür fiel knarrend hinter ihnen ins Schloss. Samantha hatte Janes Tasche in die Hütte gebracht und sie in einem grob gezimmerten Gepäckständer am Fuß des Betts abgestellt. Jane blickte auf und sah freiliegende Dachbalken. Die Wände waren aus Astkiefer, und in dem gemauerten Kamin prasselte bereits ein Feuer.
    »Gefällt’s Ihnen?«, fragte Will.
    »Ich wünschte, ich hätte meinen Mann mitgebracht. Er wäre bestimmt begeistert.«
    »Dann bringen Sie ihn doch das nächste Mal mit.« Will hob die Hand zum Gruß und wandte sich zum Gehen. »Wenn Sie so weit sind, kommen Sie einfach rüber ins Haus zum Abendessen. Ich glaube, es gibt Rindereintopf.«
    Nachdem er gegangen war, ließ sie sich auf der Veranda in einen Schaukelstuhl sinken und sah zu, wie der Sonnenuntergang ein Feuerwerk auf dem See abbrannte. Insekten summten, und das Geräusch der plätschernden Wellen machte sie schläfrig. Sie schloss die Augen und sah deshalb nicht, dass eine Besucherin sich ihrer Hütte näherte. Erst als sie das Klopfen hörte, entdeckte sie die blonde Frau, die vor der Verandatür stand.
    »Detective Rizzoli?«, sagte die Frau.
    »Kommen Sie herein.«
    Die Frau trat ein und achtete sorgfältig darauf, die Tür leise zu schließen. Selbst im Halbdunkel der Veranda konnte Jane die Ähnlichkeit mit Will und Samantha erkennen, und sie wusste, dass diese Frau die Mutter der beiden war. Und sie wusste auch ohne jeden Zweifel, wie ihr Name lautete. Es war Ingersolls Angelurlaub gewesen – und vor allem der merkwürdige Zeitpunkt, den er dafür gewählt hatte –, der Janes Aufmerksamkeit auf Loon Point gelenkt hatte. Ein Angelurlaub, zu dem er keinen Angelkasten mitgenommen hatte. Das war der wahre Grund, weshalb Ingersoll nach Maine gekommen war – um die Frau aufzusuchen, die jetzt auf der Veranda von Janes Hütte stand.
    »Hallo, Charlotte«, sagte Jane.
    Die Frau spähte durch das Fliegengitter und vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war. Dann sah sie Jane an. »Bitte benutzen Sie nie wieder diesen Namen. Ich heiße jetzt Susan.«
    »Ihre Familie
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