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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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er habe seine Mutter besucht? Ich bitte Sie, Hank. Sie können ihn doch nicht beim Wort nehmen und seine Mutter genauso wenig. Sie hätte doch sicher gelogen, um ihr eigenes Kind zu schützen.«
    »Aber den Krankenhausakten kann man doch wohl Glauben schenken.«
    »Was?«
    Er griff in seine Jackentasche und zog ein zusammengefaltetes Blatt heraus, das er ihr unter die Nase hielt. »Das hier habe ich aus Barbara Mallorys Patientenunterlagen. Es ist eine Kopie des Stationsprotokolls. Sehen Sie sich den Eintrag für den 20. April, 13.00 Uhr an.«
    Jane überflog die Seite, bis sie gefunden hatte, was die Schwester um diese Uhrzeit notiert hatte. Blutdruck 115/80, Puls 84. Patientin beschwerdefrei. Sohn ist zu Besuch; bittet darum, seine Mutter in ein ruhigeres Zimmer zu verlegen, weiter weg von der Stationszentrale.
    »Um ein Uhr mittags«, sagte Buckholz, »war Charlotte Dion mit ihren Mitschülern in der Faneuil Hall. Um Viertel nach eins bemerkten die Lehrer erstmals ihr Fehlen. Und jetzt erklären Sie mir bitte, wie Mark Mallory, der fünfundzwanzig Meilen entfernt am Krankenbett seiner Mutter saß, es geschafft haben soll, nur fünfzehn Minuten später in Boston auf offener Straße seine Stiefschwester zu entführen.«
    Jane las den Eintrag der Krankenschwester abermals durch. Datum und Uhrzeit ließen keinen Zweifel zu. Das kann doch nicht sein, dachte sie.
    Aber es war so. Da stand es schwarz auf weiß.
    »Hören Sie auf, es so darzustellen, als hätte ich damals Mist gebaut«, sagte Buckholz. »Es ist offensichtlich, dass Ihre zwei Täter Charlotte nicht entführt haben.«
    »Aber wer war es dann?«, murmelte Jane.
    »Das werden wir wahrscheinlich nie herausfinden. Ich wette, es war einfach nur irgendein Typ, der sie gesehen hat und spontan die Gelegenheit ergriff.«
    Irgendein Typ. Ein Täter, dessen Identität sie noch nicht kannten.
    Sie fuhr mit der Fotokopie neben sich auf dem Beifahrersitz nach Hause und grübelte darüber nach, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war. Zwei Mörder in der Familie, und Charlotte wird von einem Fremden entführt, der rein gar nichts mit ihnen zu tun hat? Sie parkte vor ihrem Haus und blieb in Gedanken versunken sitzen, noch nicht bereit, sich in das lärmende Chaos ihres Mutterjobs zu stürzen. Sie hielt sich vor Augen, was sie sicher wussten: nämlich, dass Dion und Mallory gemeinsam Mädchen entführt und ermordet hatten. Dass sie auf Dions Anwesen mindestens sechs Leichen verscharrt hatten. War Charlotte hinter das Geheimnis ihres Vaters gekommen? War das der wahre Grund, weshalb sie sie aus dem Weg räumen mussten? Hatten sie dazu einen Dritten angeheuert, sodass sowohl Patrick als auch Mark wasserdichte Alibis vorweisen konnten?
    Jane massierte sich die Kopfhaut, überwältigt von so vielen Fragen. Wieder einmal war Charlotte der Schlüssel zu dem ganzen Geheimnis. Was hatte sie gewusst? Wann hatte sie es erfahren? Und mit wem hatte sie ihr Wissen geteilt? Jane dachte an die letzten Fotos, die je von Charlotte gemacht worden waren, bei der Beerdigung ihrer Mutter und ihres Stiefvaters. Sie erinnerte sich daran, wie Charlotte zwischen ihrem Vater und Mark gestanden hatte. Umringt von Feinden, ohne eine Chance, ihnen zu entkommen.
    Jane setzte sich kerzengerade auf, als ihr die Antwort durch den Kopf schoss, auf die sie schon viel früher hätte kommen können.
    Vielleicht ist sie ja entkommen.

38
    Gegen Mittag überquerte Jane die Grenze zwischen New Hampshire und Maine und fuhr weiter Richtung Norden. Es war ein milder Maitag; die Bäume trugen ihr Frühlingskleid, und ein goldener Dunstschleier hing über Feldern und Wäldern. Doch als sie am Spätnachmittag den Moosehead Lake erreichte, war es merklich kühler geworden. Sie parkte den Wagen, schlang sich einen Wollschal um den Hals und ging hinunter zum Anleger, wo ein Motorboot festgemacht hatte.
    Ein Junge von ungefähr fünfzehn Jahren, das blonde Haar vom Wind zerzaust, winkte ihr zu. »Sind Sie Mrs. Rizzoli? Ich bin Will von der Loon Point Lodge.« Er nahm ihre Reisetasche. »Haben Sie sonst kein Gepäck?«
    »Ich bleibe nur eine Nacht.« Sie blickte sich am Pier um. »Wo ist denn der Skipper?«
    Er grinste und hob die Hand. »Steht vor Ihnen. Ich fahre dieses Boot, seit ich acht bin. Falls Sie Bedenken haben – ich habe diese Überfahrt schon ein paar Tausend Mal gemacht.«
    Obwohl ihre Zweifel an der Eignung des Burschen als Bootsführer nicht ganz ausgeräumt waren, stieg sie an Bord und schnallte sich die
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