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Grabesstille

Grabesstille

Titel: Grabesstille
Autoren: Tess Gerritsen
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weiß nichts?«
    »Mein Mann weiß Bescheid, aber nicht die Kinder. Sie würden es kaum begreifen. Und sie sollen nie erfahren, was für ein Mann ihr Großvater …« Sie verstummte. Mit einem Seufzer sank sie auf einen der Schaukelstühle. Einen Moment lang war das einzige Geräusch das Knarren des Stuhls auf dem Verandaboden.
    Jane betrachtete das Profil der Frau. Charlotte – nein, Susan – war erst sechsunddreißig, sah aber wesentlich älter aus. Ihre Haut war gegerbt und sommersprossig von den Jahren an der frischen Luft, ihr Haar schon von silbernen Strähnen durchzogen. Aber es war der Schmerz in ihren Augen, der sie am meisten hatte altern lassen; ein Schmerz, der sich in tiefen Falten und einem gehetzten Ausdruck niedergeschlagen hatte.
    Susan lehnte ihren Kopf an und starrte auf den See hinaus, der allmählich dunkel wurde. »Es fing an, als ich neun Jahre alt war«, sagte sie. »Eines Nachts kam er in mein Zimmer, während meine Mutter schon schlief. Er sagte mir, ich sei jetzt alt genug. Es sei an der Zeit, dass ich lernte, was alle Töchter lernen müssten. Eine gute Tochter muss tun, was ihr Daddy verlangt.« Sie schluckte. »Also habe ich es getan.«
    »Haben Sie es Ihrer Mutter erzählt?«
    »Meiner Mutter?« Susans Lachen war voll Bitterkeit. »Meine Mutter hat sich nie um irgendetwas anderes gekümmert als um ihre eigenen egoistischen Interessen. Nachdem sie ihre Affäre mit Arthur Mallory angefangen hatte, dauerte es gerade mal noch zwei Monate, ehe sie sich aus dem Staub machte. Sie hatte mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt daran erinnerte, dass sie eine Tochter hatte . Und so blieb ich mit meinem Vater zurück, der sich nur zu gerne das alleinige Sorgerecht übertragen ließ. Sie war selbstverständlich einverstanden. Okay, alle paar Monate war für mich ein Wochenende bei Mom und Arthur eingeplant, aber sie hat mich weitgehend ignoriert. Arthur war der Einzige, der wirklich nett zu mir war. Ich habe ihn nicht gut gekannt, aber er schien mir ein anständiger Mann zu sein.«
    »Was ist mit seinem Sohn, Mark?«
    Sie schwieg lange. »Ich habe nicht gemerkt, was für ein Mensch Mark war«, sagte sie schließlich leise. »Bei den ersten Treffen unserer Familien machte er einen vollkommen harmlosen Eindruck. Bald schon nahmen diese Treffen regelrecht überhand. Sie kamen zu uns zum Essen, dann waren wir wieder bei Marks Familie zu Gast. Wir haben uns alle glänzend verstanden. Das Problem war, dass meine Mutter und Arthur sich noch viel besser verstanden, als mir damals bewusst war.«
    »Offenbar haben Ihr Vater und Mark sich auch ziemlich gut verstanden.«
    Susan nickte. »Wie die besten Freunde. Es war, als hätte mein Vater endlich den Sohn gefunden, den er sich immer gewünscht hatte. Selbst nach der Scheidung meiner Eltern hat Mark Dad immer noch besucht. Sie sind nach unten in Dads Werkstatt gegangen, angeblich, um Vogelhäuser oder Bilderrahmen zu zimmern. Ich hatte keine Ahnung, was da unten wirklich vorging.«
    Jedenfalls nicht nur Schreinerarbeiten, dachte Jane. »Kam Ihnen das nicht merkwürdig vor, dass die beiden so viel Zeit miteinander verbrachten?«
    »Meistens war ich einfach nur erleichtert, wenn sie mich allein ließen. Es war um diese Zeit, als ich dreizehn war, dass mein Vater aufhörte, nachts in mein Zimmer zu kommen. Damals wusste ich nicht, warum. Heute ist mir klar, dass es zur selben Zeit war, als das erste Mädchen verschwand. Als ich dreizehn war, fand mein Vater eine andere, mit der er sich amüsieren konnte. Mit Marks Hilfe.« Susan hörte auf zu schaukeln und saß ganz still da, den Blick starr auf den See gerichtet. »Wenn ich es gewusst hätte, wenn ich erkannt hätte, wie Mark in Wirklichkeit war, dann wären meine Mutter und Arthur noch am Leben.«
    Jane runzelte die Stirn. »Wieso sagen Sie das?«
    »Ich bin der Grund, weshalb sie an dem bewussten Abend ins Red Phoenix gegangen sind. Sie waren dort wegen etwas, das ich ihnen gesagt hatte.«
    »Sie?«
    Susan holte tief Luft, als müsse sie Kraft schöpfen, um fortzufahren. »Es war eines meiner regulären Wochenenden, die ich bei Mom und Arthur verbrachte. Ich hatte gerade den Führerschein gemacht, und ich fuhr zum ersten Mal selbst zu ihnen. Ich nahm den Wagen meines Vaters. Und da fand ich den Anhänger. Er war zwischen den Sitz und die Konsole gefallen, wo er zwei Jahre lang unbemerkt gelegen hatte. Er war aus Gold, hatte die Form eines Drachen, und
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