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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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reiche das Gewicht der Leiche aus, um die endgültige Katastrophe zu verhindern, aber der Junge ließ nicht los. Mit nichts anderem bekleidet als den riesigen Turnschuhen schlug er auf den Boden auf. Sein Hinterkopf knallte deutlich hörbar auf einen Eisbuckel. Der Schmerz ließ ihn aufschreien, dann verlor er das Bewusstsein.
    Als er zu sich kam, fiel ihm als Erstes der Geruch auf.
    Etwas lag auf ihm, war dabei, ihn zu ersticken, und raubte ihm den Atem mit einem fauligen Gestank nach verdorbenem Fleisch und Kloake. Jemand schrie, und er öffnete die Augen. Die Leiche hatte sich in perfekter Symmetrie zu seinem eigenen Körper über ihn gelegt, wie zu einem Todeskuss, und er starrte in die Öffnung der Kapuze.
    Dort gab es etwas, was logischerweise ein Kopf hätte sein müssen.
    Es befand sich ja schließlich in der Kapuze einer Daunenjacke.
    Aus dem Polizeibericht, der einige Stunden später geschrieben wurde, ging hervor, dass der Leichnam seit rund einem Monat im Wasser gelegen hatte. Im selben Bericht wurde darauf hingewiesen, dass vermutlich die Kleider die Leiche zusammengehalten hatten. Aus klinischer Sicht könnte der Tote als »kräftig aufgedunsen, teilweise in Auflösung übergegangen« beschrieben werden, wonach der Verfasser des Berichts noch mitteilte, es lasse sich vorerst nicht mit Sicherheit sagen, ob es sich bei der toten Person um einen Mann oder eine Frau handele. Die Kleider könnten jedoch auf Ersteres hinweisen.
    Der Junge, der den ganzen Samstagabend auf der Jagd nach Drinks und Damen durch Oslo geschlendert war, der furchtlos mitten im Winter in den Fjord gesprungen war, um einem anderen Menschen das Leben zu retten, verlor zum zweiten Mal das Bewusstsein. Er kam erst im Ullevål-Krankenhaus wieder zu sich, als seine Mutter neben seinem Bett saß. Er brach bei ihrem Anblick sofort in Tränen aus, schluchzte wie ein Kind und schmiegte sich in die warme, beruhigende Umarmung, während er versuchte, das zu verdrängen, was er gesehen und erlebt hatte – bevor die segensreiche Dunkelheit ihn von dem Ungeheuer aus dem Meer weggeholt hatte:
    Aus einem Loch in der konturlosen Masse, ungefähr dort, wo einst ein Auge gesessen hatte, lugte ein Fisch hervor. Ein silbrig schimmernder Fisch, nicht größer als eine Sardelle, mit schwarzen Augen und vibrierenden Flossen, sie starrten einander an, der Junge und der Fisch, dann zappelte der Fisch und fiel aus dem toten Kopf in den heulenden Mund des Jungen.

Unterwegs zu einem Freund
    »Von jetzt an gibt es am Heiligen Abend immer Fisch.«
    Yngvar Stubø nahm den Kabeljaukopf vom Teller, saugte das Auge aus und kaute nachdenklich darauf herum. Seine Schwiegermutter, die ihm gegenüber am ovalen Esstisch saß, spitzte verärgert den Mund und wandte sich mit hochgezogenen Augenbrauen ab.
    Ihr Mann hatte schon zwei Glas zu viel intus. Er zeigte mit Messer und Gabel auf seinen Schwiegersohn. »Der Junge da macht’s richtig! Ein echtes Mannsbild isst den ganzen Fisch.«
    »Wenn wir bei der Wahrheit bleiben wollen«, begann seine Frau, »dann ist Schweinerippe am Heiligen Abend in dieser Familie Brauch seit …«
    »Tut mir leid, Mama!«
    Inger Johanne Vik seufzte und legte ihr Besteck ab. »Es war ein Fehler, okay? Ein blöder und ziemlich belangloser kleiner Fehler. Kannst du diese Rippe nicht einfach vergessen? Der Mittlere Osten steht in Flammen, die Finanzkrise wütet, und du machst einen solchen Aufstand, weil Strøm-Larsen meine Bestellung verschusselt hat? Alle an diesem Tisch essen gern Kabeljau, Mama, es kann doch nicht so verdammt …«
    »Es passt überhaupt nicht zu dir, so zu fluchen, meine Liebe. Außerdem habe ich noch nie erlebt, dass Strøm-Larsen irgendetwas vergisst. Ich habe schon vor deiner Geburt beim besten Schlachter in der Stadt eingekauft und habe nie …«
    »Mama! Kannst du nicht einfach …«
    Inger Johanne machte den Mund zu, rang sich ein Lächeln ab und sah zu ihrer Tochter Ragnhild hinüber. Die bald Fünfjährige starrte ihren Vater neugierig an, während der das andere Auge verzehrte.
    »Schmeckt das lecker, Papa?«
    »Mmmm … seltsam und interessant und lecker.«
    »Es schmeckt nach Fischauge«, sagte Kristiane und klopfte rhythmisch mit der Gabel auf ihren Teller. »Das liegt doch auf der Hand. Fischauge in Seifenlauge.«
    »Lass das doch«, sagte die Großmutter freundlich. »Kannst du nicht Omas liebes Mädchen sein und mit dem Lärm aufhören?«
    »Es gibt Leute, die essen gern Fisch«, sagte Ragnhild. »Und es
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