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Gotteszahl

Gotteszahl

Titel: Gotteszahl
Autoren: Anne Holt
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Schweinerippe wie immer im allerletzten Moment besorgen wollen. Als sie an diesem Morgen gegen zehn bei Schlachter Strøm-Larsen gefragt hatte, war bereits alles ausverkauft gewesen. Sie hätte schwören können, vor zwei Wochen telefonisch bestellt zu haben, aber niemand konnte sich erinnern. Die Verkäufer hatten um Entschuldigung gebeten und das stärkste Bedauern für diese gelinde gesagt unerfreuliche Situation ausgesprochen, aber Schweinerippe war nun einmal ausverkauft. Der Ladenbesitzer hatte sich einen milden Tadel nicht verkneifen können: Für das Festmahl musste doch lange vor dem Heiligen Abend gesorgt werden.
    Die Vorstellung, der Mutter Billigrippe aus einem Supermarkt aufzutischen, wirkte für Inger Johanne noch unmöglicher, als Kabeljau zu servieren.
    »Ich hätte doch das verdammte Schwein bei Rimi kaufen und behaupten sollen, dass es von Strøm-Larsen kommt«, flüsterte sie Yngvar zu und stellte den letzten Teller in die Maschine. »Sie hat ja kaum etwas angerührt.«
    »Schön blöd von ihr«, flüsterte Yngvar zurück. »Ganz ruhig bleiben.«
    »Können wir ein wenig lüften?,« fragte die Mutter laut und deutlich. »Kein böses Wort über den Kabeljau, der ist gesund und schmackhaft, aber der Duft von frisch gebratener Rippe macht eben viel von der Weihnachtsstimmung aus.«
    »Bald wird es nach Kaffee duften«, sagt Yngvar munter. »Den Kaffee trinken wir zum Dessert, ja?«
    Einen Stock tiefer war der Knabenchor bei »Schön ist’s auf Erden« angekommen. Ragnhild stimmte ein und lief zum Fernseher, um ihn einzuschalten.
    »Kein Fernsehen jetzt, Ragnhild!«
    Inger Johanne versuchte zu lächeln, als sie an den Tisch trat: »Am Heiligen Abend wird bei uns nicht ferngesehen, das weißt du. Und schon gar nicht beim Essen.«
    »Ich finde es ja eine sehr gute Idee«, widersprach die Großmutter. »Wir haben doch ohnehin zu früh gegessen. Es ist so nett, den Knabenchor zu hören. In seinen prachtvollen Stimmen liegt so viel von Weihnachten. Ihr Gesang gehört zu den schönsten Dingen, die ich kenne. Komm, Ragnhild, dann suchen du und die Oma den richtigen Sender.«
    Ein Rotweinglas fiel klirrend auf den Küchenboden.
    »Nichts passiert, nichts passiert!«
    Yngvar rief und lachte und lärmte.
    Inger Johanne stürzte zur Toilette.
    »Die Seele wiegt einundzwanzig Gramm«, sagte Kristiane.
    »Ach, tut sie das?«
    Der Großvater schenkte sich das Aquavitglas zum fünften Mal voll.
    »Ja«, sagte Kristiane ernsthaft. »Wenn man stirbt, wird man einundzwanzig Gramm leichter. Aber man kann sie nicht sehen. Nicht sehen und nicht lachen und gar nichts.«
    »Nicht sehen?«
    »Die Seele. Man kann nicht sehen, wie sie wegfliegt.«
    »Kristiane«, sagte Yngvar aus der Küche. »Das war mein Ernst: Schluss. Wir reden nicht mehr über Tod und Verderben, okay? Außerdem ist das mit der Seele Unsinn. Es gibt überhaupt keine Seele. Das ist nur ein religiöser Begriff. Möchtest du zum Nachtisch Tee mit Honig?«
    »Dam-di-rum-ram«, sagt Kristiane monoton.
    »O nein …«
    Inger Johanne war aus dem Badezimmer zurückgekehrt. Sie ging neben ihrer Tochter in die Hocke. »Sieh mich an, Herzchen. Sieh mich an.«
    Vorsichtig fasste sie der Kleinen unters Kinn. »Yngvar hat gefragt, ob du Tee möchtest. Tee mit Honig. Möchtest du?«
    »Dam-di-rum-ram.«
    »Es kann doch nicht gut sein, dem Kind Tee zu geben, wenn es in diesem … Zustand ist, oder? Komm zu Oma, mein Kind, dann hören wir uns die tüchtigen Jungen an. Komm her, mein Mädchen.«
    Yngvar stand für seine Schwiegermutter unsichtbar in der Küche. Er winkte Inger Johanne zu und formte mit dem Mund die Worte: »Gar nicht drum kümmern. Stell dich taub.«
    »Dam-di-rum-ram«, sagte Kristiane.
    »Du bekommst genau das, was du dir gewünscht hast«, flüsterte Inger Johanne. »Was du dir am allermeisten gewünscht hast.«
    Inger Johanne wusste, dass es keinen Zweck hatte. Kristiane entschied selbst, wo sie war. Seit vierzehn Jahren lebte sie nun schon so eng mit dem Kind zusammen, dass sie ab und zu nicht mehr sehen konnte, wer sie war und wer ihre Tochter. Aber sie hatte noch immer nicht die Antwort auf die Frage gefunden, was das Kind von einem Zustand in den anderen überwechseln ließ. Einzelne Muster hatten sie gelernt, sie und Yngvar und Kristianes Vater Isak. Äußerungen und Gewohnheiten, Gerichte, die vermieden werden sollten, Gerichte, die ihr guttaten, Medikamente, die sie ausprobiert und übereinstimmend als unwirksam wieder abgesetzt hatten,
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