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Gorki Park

Gorki Park

Titel: Gorki Park
Autoren: Martin Cruz-Smith
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nackt in der Küche und schälte sich eine Orange. Sie hatte ein breites Kindergesicht, unschuldig blaue Augen, eine schmale Taille und kleine Brüste mit winzigen Warzen, kaum größer als Impfnarben. Da sie viel Gymnastik trieb, hatte sie sehr muskulöse Beine. Ihre Stimme war hoch und kräftig.
    »Nach Überzeugung berufener Fachleute sind Individualität und Originalität von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Entwicklung der sowjetischen Wissenschaft. Eltern müssen die neuen Lehrpläne und die Neue Mathematik akzeptieren, denn sie verkörpern Fortschritte beim Aufbau einer noch größeren Gesellschaft.« Sonja machte eine Pause und sah zu Arkadi hinüber, der seinen Kaffee auf der Fensterbank sitzend trank und sie beobachtete. »Du könntest wenigstens deine Morgengymnastik machen.«
    »Ich spare meine Kräfte für eine noch größere zukünftige Gesellschaft.«
    Sie beugte sich über den Tisch, um einige Zeilen zu überfliegen, die sie in einem Artikel in der Lehrerzeitung unterstrichen hatte, und spuckte dabei Orangenkerne in die Hand.
    »Aber Individualismus darf nicht in Egoismus oder Karrieresucht ausarten.« Sonja warf Arkadi einen fragenden Blick zu. »Wie klingt das?«
    »An deiner Stelle würde ich die Karrieresucht auslassen. In einem Moskauer Publikum sitzen zu viele Karrieremacher.«
    Als sie sich Stirnrunzeln abwandte, ließ Arkadi spielerisch seine Hand über ihren Rücken gleiten.
    »Lass das! Ich muss zusehen, dass ich mit meiner Rede fertig werde.«
    »Wann hältst du sie?« erkundigte er sich.
    »Heute Abend. Der Bezirksausschuss bestimmt ein Mitglied, das nächste Woche auf der Sitzung des Stadtkomitees das Hauptreferat halten soll. Außerdem hast ausgerechnet du ganz sicher kein Recht, Karrieremacher zu kritisieren.«
    »Solche wie Schmidt?«
    »Ja«, antwortete sie nach kurzer Pause. »Solche wie Schmidt.«
    Sonja verschwand im Bad, und Arkadi verließ seinen Platz, um zu sehen, welchen Artikel sie unterstrichen hatte. Die Überschrift lautete »Weshalb wir größere Familien brauchen«. Im Bad schluckte Sonja ihre Antibabypille. Eine polnische Pille. Sie weigerte sich, sich eine Spirale einlegen zu lassen.
    Sonja ging ins Schlafzimmer und übte an der Sprossenwand. An der anderen Wand, hinter dem Bett, hing ein schon oft geklebtes Plakat mit drei Kindern - aus Afrika, Russland und China - mit der Losung: »Ein Pionier ist der Freund der Kinder aller Nationen!« Sonja war die kleine Russin auf dem Plakat und mit ihm berühmt geworden. Auf der Universität hatte Arkadi sie als »das Mädchen auf dem Pionierplakat« kennen gelernt. Sie sah noch immer wie auf dem Plakat aus.
    »Warum willst du unbedingt ein Referat halten?« fragte er durch die Tür.
    »Einer von uns beiden muss schließlich an die Zukunft denken.«
    »Gefälltes dir hier so schlecht?« Arkadi kam ins Schlafzimmer.
    »Du verdienst hundertachtzig Rubel im Monat, und ich bekomme hundertzwanzig. Ein Vorarbeiter in der Fabrik bringt das Doppelte nach Hause. Ein Handwerker verdient mit Schwarzarbeit das Dreifache. Wir haben keinen Fernseher, keine Waschmaschine, keine neuen Sachen für mich. Wir hätten einen ausgemusterten KGB-Dienstwagen kaufen können - das hätte sich arrangieren lassen.«
    »Das Modell hat mir nicht gefallen.«
    »Wenn du deine Parteiarbeit ernsthafter betreiben würdest, könntest du längst fürs Zentralkomitee tätig sein.«
    Als er ihre Hüfte berührte, spannten die Muskeln sich unter der glatten Haut. Die Kombination von Sex und Parteiarbeit war charakteristisch für ihre Ehe.
    »Warum nimmst du eigentlich noch die Pille? Du hast seit Monaten nicht mehr mit mir geschlafen.«
    Sonja umklammerte sein Handgelenk mit aller Kraft und schob es von sich fort. »Für den Fall, dass ich vergewaltigt werde«, antwortete sie.
    Im Hof spielten Kinder in Schneeanzügen und warmen Mützen und starrten Arkadi und Sonja an, als sie in den Moskwitsch stiegen. Der Motor sprang beim dritten Versuch an. Arkadi fuhr auf die Taganskaja-Strasse hinaus.
    »Natascha hat uns für morgen aufs Land eingeladen.« Sonja starrte angestrengt geradeaus. »Ich hab die Einladung angenommen.«
    »Als ich dir vor einer Woche von dieser Einladung erzählt habe, wolltest du nicht gehen«, stellte Arkadi fest.
    Sonja zog ihren Schal bis zur Nasenspitze hoch. Im Wagen war es kälter als draußen, aber sie konnte keine offenen Fenster vertragen. Sie saß in Wintermantel, Pelzmütze, Schal, Stiefel und Schweigen eingehüllt neben ihm.
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