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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Autoren: Jean Kwok
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Ich bin unendlich stolz auf dich. Aber manchmal sieht das eigene Schicksal eben ganz anders aus, als man es sich vorgestellt hat.«
    Zwölf Jahre später

14
    D er sechsjährige Pete hatte sich unter den niedrigen blauen Kindertisch verkrochen und weigerte sich herauszukommen.
    »Ich dachte, er hat nur hohen Blutdruck. Ich verstehe nicht, warum er deshalb operiert werden muss. Kann er nicht einfach ein paar Pillen schlucken?« Der Mann klang frustriert. Er war klein und kahlköpfig, und sein Bauch hing ihm über die Hose.
    »Herr Ho, ich fürchte, das reicht nicht. Pete hat eine Koarktation der Aorta, das ist ein angeborener Herzfehler.« Ich zog das große Herzmodell zu mir herüber, das auf meinem Schreibtisch stand. Der kleine Junge klammerte sich ans Tischbein und ließ uns nicht aus den Augen.
    Herr Ho blinzelte mich verwirrt an. Obwohl wir chinesisch sprachen, hatte er ganz offensichtlich kein Wort verstanden.
    »Pete ist schon damit zur Welt gekommen. Sehen Sie diese Ader hier?« Ich zeigte auf die Aorta. »Das ist die Hauptschlagader, die das Blut vom Herz in den Körper leitet. Dieser Teil hier ist nicht weit genug.« Ich zog das Echokardiogramm von Petes Herz hervor und lächelte den kleinen Jungen an. »Pete, möchtest du mal ein Bild von deinem Herzen sehen?«
    Langsam kam er unterm Tisch hervor und kletterte auf den Schoß seines Vaters. Ich drehte das Echokardiogramm zu den beiden um, damit sie es besser sehen konnten. »Du hast ein sehr starkes Herz, aber weil dieser Teil hier zu eng ist, muss dein ganzes Herz mehr arbeiten. Besonders hier, in der linken
Herzkammer, herrscht dadurch zu viel Druck. Das kann deinem Herzmuskel später sehr schaden und zu vielen anderen Problemen führen.«
    »Welchen zum Beispiel?«, fragte Herr Ho.
    »Hohem Blutdruck oder Herzversagen«, erklärte ich noch einmal.
    Er verzog das Gesicht. Er hatte gehofft, dass man auf eine Operation würde verzichten können.
    »Es ist eine kurative Operation«, erklärte ich. »Das heißt, dass Pete hinterher geheilt wäre. Nachbehandlung und Herz-Reha natürlich vorausgesetzt.«
    Jetzt sahen die beiden schon glücklicher aus.
    Pete warf mir einen Blick zu und fragte seinen Vater: »Ist die hübsche Ärztin bei der Operation auch dabei, Papa?«
    Sein Vater seufzte und nickte. »Sie ist die Chefin.«
    Beeindruckt wandte sich der Junge direkt an mich. »Wirklich?«
    »Als deine Chirurgin bleibe ich die ganze Zeit bei dir«, versprach ich.
    Herr Ho kam mir irgendwie bekannt vor. Ich hatte das Gefühl, ihm vor langer Zeit schon einmal begegnet zu sein. Woher kannte ich bloß diesen Namen? Plötzlich kam mir eine Idee. »Sie kennen nicht zufällig einen Matt Wu?«, fragte ich ihn.
    Der Mann sah mich überrascht an. »Ah -Matt. Doch, natürlich.« Jetzt nahm auch er mich genauer unter die Lupe. »Sind Sie eine Freundin von ihm? Ich wusste gar nicht, dass ah -Matt so wichtige Leute kennt!«
    »Sie erinnern sich wahrscheinlich nicht mehr, aber Matt und ich haben früher manchmal Wan-Tan-Suppe bei Ihnen gegessen.« Ich musste lächeln, als ich daran zurückdachte. Vor mir saß der Kellner, der uns immer aus der Warteschlange geholt hatte.
    »Oh.« Er sah mich zerstreut an und war sichtlich bemüht, sich zu erinnern und mich nicht nur als Ärztin seines Sohnes zu betrachten. »Ja, natürlich!« Herr Ho nickte, ohne mir in die Augen zu sehen. Ich wusste, dass er nur so tat, als hätte er mich wiedererkannt. Er erinnerte sich nur an Vivian.
    Ich versuchte, so beiläufig wie möglich zu klingen. »Sehen Sie ihn noch manchmal?«
    »Klar, Matt ist immer irgendwo in der Nähe.«
    Ich holte tief Luft. Das war meine Chance. Ich hielt ihm meine Visitenkarte hin. »Würden Sie ihm das von mir geben?« Pete nahm die Karte und kratzte sich damit an der Wange. »Sagen Sie ihm …«
    Herr Ho sah mich abwartend an.
    »Sagen Sie ihm schöne Grüße.«
    Er nahm Pete die Karte aus der Hand und steckte sie in sein Portemonnaie. »Wird erledigt.«
     
    In meiner Fantasie war ich Matt im Laufe der Jahre schon Hunderte Male über den Weg gelaufen: im Bus, in der Bank, in New Haven, in Cambridge; ich träumte davon, dass er als Patient in die Klinik oder als Proband in die medizinische Fakultät kam, je nachdem, wo ich mich gerade aufhielt. Vielleicht hatte ich deshalb meine jetzige Stelle in der Nähe von Chinatown angenommen, als wir schließlich nach New York zurückgekehrt waren. Ich hatte mir vorgestellt, dass er eines Tages einfach durch die Tür der Klinik
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