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Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)

Titel: Goodbye Chinatown: Roman (German Edition)
Autoren: Jean Kwok
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auf der Suche nach Wolkenkratzern. Ich konnte keine entdecken. Dabei wünschte ich mir so sehr, endlich das New York zu sehen, von dem ich in der Schule gehört hatte: Min-hat-ton mit seinen glitzernden Kaufhäusern, und vor allem die Freiheitsgöttin, die stolz über den Hafen wacht. Aber jetzt, auf unserer Fahrt, gingen die Highways allmählich in unvorstellbar breite, nicht enden wollende Boulevards über. Die Gebäude wurden schmutziger, hatten kaputte Fenster und waren mit englischer Schrift besprüht. Wir bogen ein paar Mal ab und fuhren schließlich an einer Gruppe von Menschen vorbei, die trotz der frühen Stunde in einer langen Schlange anstanden. Onkel Bob parkte neben einem dreistöckigen
Gebäude, dessen Schaufenster mit Brettern zugenagelt waren. Ich dachte erst, er würde nur anhalten, um irgendetwas abzuholen, aber dann kletterten plötzlich alle aus dem Auto auf den eisbedeckten Asphalt.
    Die Menschen in der Schlange warteten darauf, das Haus rechts von uns betreten zu dürfen, über dem ein Schild mit der Aufschrift Sozialamt hing. Ich wusste nicht genau, was das war. Fast alle Wartenden waren schwarz. Ich hatte vorher noch nie schwarze Menschen gesehen. Die Haut einer Frau, die fast ganz vorne stand und die ich daher am besten sehen konnte, war schwarz wie Kohle, und in ihrer wolkenartigen Haarpracht schimmerten goldene Perlen. Trotz ihres ausgefransten Mantels fand ich sie einfach atemberaubend. Manche trugen ganz normale Kleider, aber einige Leute in der Schlange sahen erschöpft und ungepflegt aus, mit glasigen Augen und ungewaschenem Haar.
    »Starr nicht so!«, zischte mir Tante Paula zu. »Sonst werden sie noch auf uns aufmerksam.«
    Ich drehte mich wieder zum Auto um, aus dem die Erwachsenen bereits unsere wenigen Habseligkeiten geladen hatten, um sie dann vor der zugenagelten Schaufensterfront zu stapeln. Wir besaßen drei Koffer aus Tweed, Mamas Geigenkoffer, ein paar sperrige, in braunes Papier gewickelte Pakete und einen Besen. Vor der Haustür war ein großer nasser Fleck zu sehen.
    »Was ist das, Mama?«
    Sie beugte sich über den Fleck und betrachtete ihn genauer.
    »Nicht anfassen«, riet Onkel Bob, der hinter uns stand. »Das ist Pisse.«
    Wir machten beide einen Satz nach hinten.
    Tante Paula legte je eine behandschuhte Hand auf unsere
Schultern. »Macht euch keine Sorgen«, sagte sie beschwichtigend, aber auf mich wirkte ihr Gesichtsausdruck nicht gerade beruhigend. Sie sah angespannt und ein wenig verlegen aus. »Die Leute aus eurer Wohnung sind gerade erst ausgezogen, deshalb hatte ich noch keine Gelegenheit, sie mir anzusehen. Denkt immer daran: Wenn es Probleme gibt, schaffen wir sie aus der Welt. Gemeinsam. Schließlich sind wir eine Familie.«
    Mama seufzte und legte ihre Hand auf Tante Paulas Hand. »Gut.«
    »Außerdem habe ich eine Überraschung für euch. Hier.« Tante Paula ging zum Auto und holte einen Karton heraus, in dem einige Gegenstände lagen: ein Radiowecker, ein paar Bettlaken und ein kleiner Schwarzweißfernseher.
    »Danke«, sagte Mama.
    »Nicht doch«, antwortete Tante Paula. »Jetzt müssen wir aber los. Wir kommen sowieso schon zu spät in die Fabrik.«
    Ich hörte sie davonfahren, während sich Mama an der bedrohlich vor uns aufragenden Haustür mit den Schlüsseln abmühte. Als sie die Tür endlich aufgeschlossen hatte, schien sie sich zunächst zu widersetzen, sprang dann aber doch auf und gab den Blick auf eine nackte Glühbirne frei, die wie ein Zahnstumpf in ihrem schwarzen Schlund leuchtete. Die Luft roch feucht und staubig zugleich.
    »Mama«, flüsterte ich. »Sind wir hier denn sicher?«
    »Tante Paula würde uns nirgendwo hinschicken, wo wir nicht sicher wären«, antwortete sie, aber in ihrer leisen Stimme schwang ein Hauch von Zweifel mit. Obwohl Mamas Kantonesisch normalerweise klar und deutlich war, hörte man ihre ländlichen Wurzeln heraus, wenn sie nervös war. »Gib mir den Besen.«
    Während ich unsere Sachen in den engen Eingangsbereich brachte, nahm sich Mama mit dem Besen die Treppe vor.
    »Bleib hier, und lass die Tür offen«, sagte sie. Ich wusste, ihr ging es darum, dass ich notfalls schnell Hilfe holen konnte.
    Das Herz pochte mir bis zum Hals, als ich sie die Holztreppe hochgehen sah. Die Stufen waren vom jahrelangen Gebrauch abgenutzt und verzogen und neigten sich zum Geländer hin steil nach unten. Ich hatte Angst, dass eine Stufe durchbrechen und Mama abstürzen würde. Als sie auf dem ersten Treppenabsatz angekommen war und
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